Buchtipp des Monats Oktober 2013 (1)

Von Peter Koj

Dreihundert Brücken

In der Flut der rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse erschienenen Übersetzungen zeitgenössischer brasilianischer Autoren gehört der Roman Dreihundert Brücken von Bernardo Carvalho sicher zu den bemerkenswertesten. Die Erstveröffentlichung des Autors in deutscher Sprache Neun Nächte , ebenfalls in der Übersetzung von Karin von Schweder-Schreiner , haben wir bereits in der Portugal-Post 36 vorgestellt und in unserem Lesekreis am 25. Januar 2007 besprochen. Der neue Roman des 1960 in Rio geborenen Autors bietet nun einen totalen Szenenwechsel vom brasilianischen Urwald in das ehemalige Sowjetimperium. Die Haupthandlung spielt in der Stadt der 300 Brücken St. Petersburg (Leningrad) im Jahre 2003 kurz vor den 300-Jahrfeiern der Stadt.

Doch von dem zaristischen Glanz ist noch nichts zu spüren. Im Gegenteil: Baugerüste zur Renovierung der Fassaden und dichter Mörtelstaub schaffen einen gespenstischen Rahmen für eine Handlung, in der sich die Menschen wie Schemen bewegen. Die Hauptfiguren, der junge Tschetschene Ruslan und der ebenso junge Rekrut Andrej Guerra (sein Vater ist Brasilianer) sind aus verschiedenen Gründen auf der Flucht vor der russischen Armee. Deren Brutalität, Korruption und verlogenes Spiel mit der Homosexualität einerseits und der verzweifelte Kampf der Mütter, z.B. im Komitee der Soldatenmütter St. Petersburg , ihre Söhne zu retten geben den Rahmen für das beklemmende und atemberaubende Geschehen. Der deutsche Titel kann im Gegensatz zum Originaltitel O Filho da Mãe diese Ambivalenz nicht wiedergeben. Auch in Brasilien ist dies ebenso wie in Portugal die Salonversion eines üblen Schimpfworts (dazu mein Artikel Fluchen auf Portugiesisch in der letzten Portugal-Post ). Doch wer ist dieser „Hurensohn“? Könnte es sein, dass in diesem Land, das moralisch so aus den Fugen geraten ist („Hier ist keiner unschuldig“, S. 153), alle männlichen Wesen filhos da mãe sind? Aber auch die Mütter mag der Autor nicht von Schuld freizusprechen: „Mütter haben mehr mit Krieg zu tun, als sie sich vorstellen können. Es ist genau andersherum, als alle glauben. Ohne Mütter könnte es gar keinen Krieg geben.“ (S. 208)

In dieser brutalen und anarchischen Welt wird der Leser mit seiner Empörung und Erschütterung allein gelassen. Bernardo Carvalho nimmt sich als Autor total zurück. Viele Szenen sind – cinematographisch gesprochen – im Off geschrieben. Knappe, unverbundene Sätze (Parataxe) ohne das schmückende Beiwerk von wörtlicher Rede, Reflexionen etc. ergeben einen Text, wie er bei Blindenfassungen von Fernsehfilmen geliefert wird. Er lässt dem Leser viel Raum für seine eigenen Empfindungen. Diese werden ihn trotz oder gerade wegen der emotionalen Zurückhaltung des Autors umso mehr übermannen, nicht nur bei dem dramatischen Höhepunkt des Romans, sondern dann noch einmal mit ganz besonderer Heftigkeit im Epilog, in dem die Grausamkeiten bei der Terroristenbekämpfung im Rahmen des Tschetschenienkrieges auf eine kaum zu überbietende absurde Spitze getrieben werden.

 

Bernardo Carvalho, Dreihundert Brücken Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Karin von Schweder-Schreiner . Luchterhand Verlag 2013. Gebundene Ausgabe € 19.99