Buch des Monats Mai 2013

Von Peter Koj

  Wir sind eine große (Sprach)familie!

 

Als ich kürzlich unserem Enkel Adrian die Zahlen von 1 bis 10 auf Französisch aufsagte, rief er ganz überrascht aus: „Das ist ja wie Portugiesisch!“ Die portugiesischen Zahlen kannte er schon seit einiger Zeit durch den spielerischen Umgang mit ihnen, z. B. Zählen der Treppenstufen. Aber mit dieser Bemerkung verblüffte mich der vierjährige Knirps doch sehr, denn ansatzweise hatte er erfasst, was den Linguisten Ernst Kausen zum Verfassen eines dickleibigen Bandes von744 Seiten verleitet hat: Die indogermanischen Sprachen. Von der Geschichte bis zur Gegenwart (Helmut Buske Verlag, Hamburg 2012). Es ist die wohl umfassendste Darstellung dieser großen Sprachfamilie, die von mehr als drei Milliarden Menschen gesprochen wird und ungefähr 300 Sprachen umfasst, darunter natürlich nicht nur das Französische und Portugiesische, sondern auch das Deutsche, ganz zu schweigen von all den anderen germanischen und slawischen Sprachen.

Wie der Untertitel schon andeutet, geht es Ernst Kausen nicht um eine systematische Darstellung des Status quo, sondern eine historische Aufarbeitung, sozusagen die Suche nach der genetischen Einheit und die Beantwortung der Frage „Woher kommt unsere Sprache?“ Das ist zumindest im Falle der romanischen Sprachen Französisch und Portugiesisch ein leichtes Spiel, denn hier ist die Protosprache bestens belegt und erforscht, nämlich das Lateinische. Spannend ist hier nun zu sehen, wie sich das durch die römischen Besatzer verbreitete „Sprechlatein“ in den verschiedenen Regionen Europas unterschiedlich weiter entwickelt und zu den modernen romanischen Sprachen geführt hat.

Knapp 100 Seiten sind dem Kapitel „Italisch und Romanisch“ gewidmet. Hier findet sich neben einer Darstellung der historischen Entwicklung des Lateinischen eine Beschreibung und Einordnung der verschiedenen romanischen Sprachen. Zum Portugiesischen sind die wesentlichen Fakten auf gut zwei Seiten zusammengetragen (S. 274 – 276). Dazu gibt es ein weiteres Kurzkapitel, in dem die Zusammenhänge zwischen Portugiesisch und Galicisch (Galego) beleuchtet werden (S. 272). Dies ist so weit, so gut. Allerdings sträuben sich einem die lusitanischen Nackenhaare, wenn man auf S. 238 auf die Tabelle der romanischen Wortgleichung stößt. Hier wird an ein paar ausgewählten Begriffen die enge Verwandtschaft zwischen Latein, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Katalanisch, Okzitanisch, Französisch und Rumänisch augenscheinlich. Vor allem, wenn man im Portugiesischen für „Vater“ padre statt pai , madre statt mãe für „Mutter“ und freire statt irmão für „Bruder“ angibt. Alle drei Begriffe gibt es zwar auch im Portugiesischen, haben aber klerikale Bedeutung (Pater, Ordensschwester/Nonne und Ordensbruder/Mönch).

Ganz schlimm ergeht es dem Knie. Das heißt hier geolho (statt joelho ). Língua , água und céu haben keinen Akzent abbekommen und werden zudem mit „o“ statt „u“ geschrieben. Und an den Zahlen hätte auch Klein Adrian seine „Freude“, zählt Ernst Kausen doch hum, dous, tres statt um , dois , três . Man fragt sich, wie kann ein Forscher so mit einer Weltsprache umgehen, die von über 200 Millionen Menschen gesprochen wird und alles andere als ein versprengter romanischer Dialekt ist. In der Romania rangiert sie gleich nach dem Spanischen (Kastilisch) und steht weltweit an sechster Stelle in der Rangfolge der meistgesprochenen Sprachen, weit vor Deutsch, Russisch, Italienisch oder Französisch.

  Ernst Kausen, Die indogermanischen Sprachen Buske Verlag Hamburg 2012. € 68,00