Buchtipp des Monats – Juli 2012

Vorgestellt von Dr. Peter Koj

Ein irres Buch - Die Versehrten

von Gonçalo M. Tavares

Vorgestellt von Peter Koj

Wir möchten Ihnen das 2005 erschienene Buch Jerusalém des jungen portugiesischen Autors Gonçalo M. Tavares vorstellen, das nunmehr auch in deutscher Übersetzung vorliegt ( Die Versehrten , übersetzt von Marianne Gareis). Es ist ein ungewöhnliches, um nicht zu sagen ein irres Buch.

Irre schon wegen der Protagonisten. Da sind zuerst die Insassen der Georg-Rosenberg-Klinik, die im Kapitel IX ( Die Verrückten ) in Kurzporträts vorgestellt werden. Schon hier schwant dem aufmerksamen und sensiblen Leser die hintergründige, beunruhigende Botschaft des Buches. Die „Irren“ werden nämlich nicht aus der Sicht des „gesunden“, sich in Sicherheit wiegenden Autors und Lesers porträtiert. Diese „Verrückten“ „ticken“ auf eine ganz vernünftige Weise „nicht ganz richtig“.

Das gilt vor allem für Mylia, die Ehefrau des Arztes Dr. Theodor Busbeck. Er „musste“ Mylia, die sich als 18jährige bei ihm in Behandlung begeben hatte, vor zwei Jahren in diese psychiatrische Anstalt einweisen, wobei man nicht so recht erfährt, warum. Doch der eigentliche „Irre“ ist dieser Dr. Busbeck, der an einem abstrusen Forschungsprojekt arbeitet, „mit dem er die Entwicklung des Grauens in der Geschichte zu verstehen suchte und nach einer Grafik strebte, mittels der man den Ort vorsehen konnte, an dem sich im nächsten Jahrhundert eine Tragödie ereignen würde“ (S. 99).

Oder der Leiter der Anstalt, dem die Anstaltsinsassen den Spiegel seines eigenen Verhaltens vorhalten. So betrachtet gehörte auch ein weiterer Protagonist in die Anstalt: Hinnerk, ein Kriegsveteran, der mit seiner aggressiven Emotionalität nicht fertig und dadurch schließlich zum Täter und Opfer zugleich wird.

„Irre“ im Sinne von „aberwitzig“ oder „genial“ wird die Geschichte durch die kunstvolle Führung der Protagonisten, deren sich der Autor quasi wie Schachfiguren bedient. Das Schachbrett ist das vorgegebene enge Zeitfenster der Nacht vom 28. Mai. Die Handlung setzt um 4 Uhr ein und endet gegen 7 Uhr mit zwei Toten. Es folgt, sozusagen als Epilog, das 20 Jahre später spielende Kurzkapitel, das alles erneut auf den Kopf stellt, und ist damit sozusagen der irre Schluss einer irren Geschichte.

Dem Leser, der sich in das Abenteuer der Lektüre dieser ungewöhnlichen Geschichte begeben möchte, nur ein kleiner Rat auf den Weg: bitte das Buch nicht gleich nach den ersten verwirrenden Seiten beiseite legen. Es ist der Beginn eines kunstvoll geschnürten Knotens, der sch erst ganz am Ende des Buches auf überraschende und geniale Weise löst.

Gonçalo M. Tavares, Die Versehrten. Aus dem Portugiesischen übersetzt von Marianne Gareis. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. € 19,99