Buch des Monats März 2013

Stephan Thome, Fliehkräfte

Vorgestellt von Peter Koj

 

Der junge Schriftsteller Stephan Thome (geb. 1972) machte gleich mit seinem Erstling Grenzgang auf sich aufmerksam (Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2009). Auch sein Ende letzten Jahres erschienenes Zweitwerk Fliehkräfte hat den Sprung in die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft und noch größere Elogen eingefahren als sein erster Roman. Es ist ein Werk von starker sprachlicher Kraft, geprägt von präzisen Dialogen voll Witz und Humor.

Worum geht es? Das zentrale Thema ist die Ehegeschichte von Hartmut Hainbach und seiner portugiesischen Frau Maria Pereira. Sie leben seit 20 Jahren in einer Wochenend-Ehe, er als Philosophieprofessor in Bonn, sie als Theaterfrau in Berlin. Er scheint mehr unter der Trennung zu leiden als Maria. Angestoßen durch das Angebot, für einen Berliner Verlag tätig zu werden (was die Zusammenführung des Ehepaares, aber auch den Verzicht auf die Pensionsansprüche als verbeamteter Professor bedeutet hätte), kommt Bewegung in die festgefahrenen Beziehungen der Beiden. Während Maria sich mit der Theatergruppe in Kopenhagen aufhält, besteigt Hartmut Hainbach das Auto und begibt sich auf einen 3000 km langen Trip bis nach Lissabon, in dessen Verlauf er hofft, eine Entscheidung in seiner schwierigen Situation zu finden.

Der Roman wird somit zum Roadmovie, das geschickt mit Rückblenden versetzt ist, die mit der Aufarbeitung der Vergangenheit des Helden zugleich ein beeindruckendes „Sittengemälde der Bundesrepublik“ (Meike Fessmann in der Süddeutschen Zeitung vom 17.9.2012) liefert. Stationen dieser Reise zu sich selbst sind Paris, Mimizan Plage, Santiago de Compostela, Lissabon und Porto. In Paris trifft er Sandrine, seine erste Geliebte aus der Zeit des Studiums in den USA, in Mimizan einen Bonner ex-Kollegen, der den Ausstieg aus der akademischen Laufbahn geschafft hat und in Santiago de Compostela seine Tochter Philippa, die perfekt Portugiesisch spricht und ausgerechnet im galizischen Santiago einen Spanischkurs belegt hat. Der wahre Grund ist natürlich ein ganz anderer und dessen Aufdeckung bedeutet eine zusätzliche Belastung für den Protagonisten.

Eine junge Holländerin, die er per Anhalter mitnimmt, scheint durch ihre unkonventionelle, antibürgerliche Haltung die Entscheidung zugunsten der Aufgabe der Professur zu beschleunigen: Die Arbeit eines chinesischen Doktoranden, mit der er sich schon seit einiger Zeit herumquält, landet in einem Müllcontainer und der Dekan wird per Handy über seine Rücktrittspläne informiert.

Doch dann kommt es wieder anders: Auf dem Weg vom Flughafen Sá Carneiro (Porto), wo er Maria abholt, um mit ihr in ihr Heimatdorf Rapa (Serra da Estrela) zu ihren Eltern zu fahren, lassen sich die Beiden an der Küste auf einer Bank nieder. Es dunkelt schon. Zum ersten Mal seit langer Zeit kommt es zu einem liebe- und vertrauensvollen Gespräch. Dabei muss Hartmut erfahren, dass der Berliner Verlag sein Angebot zurücknehmen möchte. Als Maria ihn in dieser beschämenden, wie verfahrenen Situation fragt, was er nun tun will, antwortet er mit einem einzigen Wort: „Schwimmen.“ (S. 472). Vor den entsetzten Augen Marias entkleidet sich Hartmut und stürzt sich in die kalten Fluten. Doch wir können beruhigt sein. Dem Protagonisten ist nicht nach Selbstmord. Im Gegenteil: Die Schlussszene zeigt ihn fast in einer Pose der Erlösung und Verklärung. Sie kommt nicht nur überraschend, sondern erklärt zugleich den Titel dieses großartigen Romans.

„Das Wasser trägt ihn. Weit weg hört er eine Autotür zufallen. Die Küste wird breiter. Hartmut kann bereits die Lichter des nächsten Dorfes erkennen, und sein Staunen hält an. Nach einigen Zügen dreht er sich auf den Rücken, stellt alle Bewegungen ein und folgt der sanften Strömung des Meeres. Vielleicht musste er dreitausend Kilometer fahren nur für diesen Moment. Um einmal in einem anderen Element zu treiben, ohne Ziel und ohne Angst. Endlich, denkt er. Streckt Arme und Beine aus und betrachtet den Mond.

Die Fliehkräfte ruhen.

Er schwimmt.“

Wer wie der Rezensent sich ebenfalls an Portugals Küsten gerne extensivem Schwimmen hingibt, hat sicher dieselbe existentielle Erfahrung gemacht, nämlich wie dabei die an einem zerrenden Fliehkräfte abfallen und wir zu unserer Mitte finden. Und auch sonst fühlt sich der Portugalkenner in dem Roman „zu Hause“, insbesondere im letzten Teil. Der Autor, eher ein Fachmann für den Fernen Osten, wo er über zehn Jahre studiert und gearbeitet hat, scheint sich auch in Portugal gut auszukennen. Alle Informationen zu Portugals Sprache, Landeskunde, Gesellschaft haben Hand und Fuß. Ja, man staune: Selbst bei der Nennung des Lissabonner Stadtteils Alfama verzichtet er – ganz portugiesisch! – auf den Artikel („die“).

 

Stephan Thome, Fliehkräfte Suhrkamp Verlag Berlin 2012. € 22,95