Buch des Monats - Januar 2013

Vorgestellt von Peter Koj

António Lobo Antunes, Der Archipel der Schlaflosigkeit

Bei der Vorstellung seines 2008 erschienen Buches O arquipélago da insónia verwies Lobo Antunes auf seine auch schon bei früheren Gelegenheiten formulierten erzählerischen Absichten hin: Das Buch (Lobo Antunes vermeidet bewusst den Begriff „Roman“) erzählt keine Geschichte, denn „Romane, die Geschichten erzählen, sind schlechte Romane.“ Lobo Antunes will in seinen Romanen eine „innere Landschaft“ darstellen. „Es sind Stimmen ohne Namen, die in uns existieren.“ Wie in seinen früheren Büchern gehe es auch hier um „die Angst des Menschen in der Zeit und um die Suche nach der Natur des Menschen. Ich wünschte mir, dass das Buch eine Wüste von Stimmen ist, dass die Dinge auf den Stein reduziert werden, aus dem wir gemacht sind.“

Ort des „Geschehens“ ist ein Landgut ( herdade/quinta ) auf dem Lissabon gegenüberliegenden Südufer des Tejo. Es liegt zwischen einem kleinen See und dem Ort Trafaria, von dessen Bootsanleger Lissabon so klein erscheint, dass man es in eine Hand nehmen kann. Auf dem Gut leben bzw. lebten drei Generationen, in deren Folge es steil bergab geht. Das gilt nicht nur für den Zustand der Gebäude und die materielle Ausstattung (am Schluss kramt der alte Gutsbesitzer in der Brotdose der Schwiegertochter nach ein paar Münzen, um mit seinen alten Kumpanen zocken zu können), sondern auch für die Bewohner des Guts. Der Patriarch, mit dessen Beerdigung der Roman eröffnet wird, hat das Gut gegründet und zu wirtschaftlicher Blüte geführt. Dieses erfolgreiche Unternehmertum basiert jedoch auf miesesten menschlichen Eigenschaften: Härte und Brutalität gegenüber den Angestellten und absolutes Machotum. Seine Frau lernt der Gutsbesitzer als junges Mädchen im Ort kennen, während sie ein Kaninchen häutet. Das hindert ihn nicht, sich ihrer sexuell zu bedienen und den verdutzten Eltern seine Heiratsabsichten mitzuteilen.

Auf dem Hof scheint sie dann nichts anderes zu tun, als Kaninchen zu schlachten, während ihr Mann sich aufs Geradewohl eine der vielen Küchenmädchen schnappt und in eine Nebenkammer zieht. Selbst als impotenter Greis hält er an dem Ritual fest, wobei er die Mädchen auffordert, zum Schein die Schürze zu verknüllen. Seine sexuelle Übergriffigkeit macht selbst vor seiner Schwiegertochter nicht Halt, die er eigens für diesen Zweck von weiterer Küchentätigkeit befreit und im Obergeschoss unterbringt, wo sie ansonsten sich nur um die Wäsche kümmert. Skrupel vor seinem eigenen Sohn, den er verachtet und ständig als „Idiot“ bezeichnet, kennt er nicht.

In seinem rohen Verhalten wird der Gutsbesitzer von seinem Verwalter unterstützt. Auch dieser „bedient“ sich der Schwiegertochter, ebenso wie der Pfarrer und der Gehilfe des Verwalters. Letzterer wurde als herrenloser Knabe vom Gutsbesitzer aufgegabelt und quasi adoptiert. Während des ganzen Romans sitzt er am Brunnen und schnitzt Rohrstöcke, wenn die Schwiegertochter ihn nicht gerade in die Scheune lockt, um sich auch von ihm befriedigen zu lassen. Der einzige der bei ihr nicht „landen“ kann, ist ihr Mann (also der Sohn des Gutsbesitzers), obwohl er sie immer wieder anfleht, ihn nicht zu verlassen. Sie hat zwei Söhne, deren Vaterschaft (naturgemäß!) umstritten bleibt.

Einer der beiden heißt Jaime; es ist bis zum Schluss nicht ganz sicher, welcher von beiden. Während der Jüngere von den beiden vom Patriarchen als sein Erbe und Nachfolger angesehen wird („dies wird dir alles einmal gehören“), zeigt der Ältere autistische Züge und ist auch eine Zeitlang in einer Anstalt untergebracht. Es ist die Rede von den Männern, die ihn dorthin bringen, von Injektionen, vom Bleistift des Therapeuten, von dem Blick durch das vergitterte Fenster auf den ummauerten Hof mit einem trockenen Brunnen und davon, dass kaum Besuch kommt. Einmal besucht ihn der Gehilfe des Verwalters, offensichtlich ein Hinweis auf dessen Vaterschaft.

Der Eindruck von der Kälte und Rohheit der Menschen wird noch gesteigert durch Visionen von Zerstörung menschlichen Lebens, z.B. die Zerstückelung des Pfarrers durch den Verwalter, allerdings erst nachdem dieser ihm die Absolution erteilt hat (für mich ein augenzwinkernder V-Effekt des Antiklerikalisten Lobo Antunes – wie überhaupt der Roman neben all dem Rohen und Grausamen eine Reihe von köstlichen Szenen schwarzen oder grotesken Humors enthält, z.B. die des Frisörs, dessen Flugversuche mit selbst gebastelten Flügeln so erfolgreich verlaufen, dass er zum Winter mit den Tukanen in den Süden zieht, im Frühling aber nicht zu seiner Frau zurückkehrt, sondern am See Eier brütet und mit seinem Schnabel nach Kaulquappen pickt). Aber auch die den Menschen umgebende Natur steht dem in nichts nach (Zerfleischung des abgestürzten Zickleins durch Hühnergeier). Am Schluss lehnt sich der Sohn des Patriarchen auf, nennt seinen Vater seinerseits einen Idioten und schießt auf den Gehilfen, ohne ihn allerdings zu töten. Sein vom Großvater als Erbe ernannter Sohn verzichtet auf das Erbe, holt seinen älteren Bruder (Halbbruder?) aus der Anstalt und möchte mit ihm am Ufer von Trafaria spazieren gehen.

Seine Frau hingegen kann mit dem „Autisten“ wenig anfangen, obwohl sie frühe Spielkameraden sind und obwohl er sie noch immer verehrt und sie an diese Zeit zu erinnern versucht. Sie hat – im Gegensatz zu ihrer promiskuitiven Schwiegermutter und der Kaninchen schlachtenden Frau des Patriarchen einen Namen: Maria Adelaide. Dann gibt es noch eine Filomena, eine in Trafaria lebende „ferne Geliebte“ des Patriarchen, die von einer Gesichtsrose verunstaltete Eulália und die Kusine Hortelinda, eine Art Norne: Ihre Levkojen sind ein gefürchtetes Geschenk, denn sie bedeuten den Tod. Keinen Namen trägt die Tochter des Verwalters, die vom Patriarchen verschmäht wird – ob aus Respekt vor dem kongenialen Verwalter, bleibt offen – und sich (deswegen?) mit einem Insektizid umbringt.

Alle diese Figuren finden sich in einer Fotogalerie im Haupthaus wieder, mit Ausnahme von Eulália (wegen der Gesichtsrose?) und den beiden Brüdern, die den Hauptpart des Erzählers bzw. fiktiven Autors bestreiten. So können sie, auch wenn sie inzwischen schon gestorben sind, sich „aktiv“ beteiligen, d.h. ihre Stimme einbringen. Dadurch entsteht ein chronologischer Schwebezustand über alle Generationen hinweg (gelegentlich bringen sich sogar die Urgroßeltern ein). Daran ändern auch solch zeitgeschichtlich terminierten Ereignisse wie die (angeblichen) Gräueltaten von Kommunisten im Zuge der „Nelkenrevolution“ nichts, für die Lobo Antunes genau so wenig Sympathie zeigt wie für die Arroganz der Besitzer, ein Thema, das am Ende des Romans einen gewissen Raum einnimmt.

Dies ist jedoch nicht das zentrale Thema. Im Mittelpunkt stehen die bekannten Themen von Lobo Antunes: der Verfall und die Frage, wie es dazu kommen konnte, der Schrei nach Liebe und menschlicher Wärme und die Frage nach dem Sinn unserer Existenz in einer so grausamen Welt Selbst Gott kann uns da nicht helfen: „vom Alter verwirrt und abgeschlafft sitzt er auf einem Hocker, während er sich die Knie streicht:

•  Wie seltsam das Leben doch ist“ (S. 309).

Maralde Meyer-Minnemann ist es wieder einmal gelungen, die schwierige Prosa des größten zeitgenössischen Erzählers Portugals adäquat ins Deutsche zu übertragen, diese „mit Glanz übersetzt“ zu haben – wie es ihr Jochen Jung ( DIE ZEIT, 29.11.2012 Nr. 49 ) attestiert – könnte angesichts des finsteren Geschehens falsche Assoziationen wecken.

António Lobo Antunes, Der Archipel der Schlaflosigkeit Aus dem Portugiesischen übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann . Luchterhand Verlag, München 2012, € 22,99