Buch des Monats - September 2012

Back to the roots auf Portugiesisch

Von Peter Koj

 

Wissen Sie was eine graphic novel ist? Bis vor kurzem war mir dieser neue Anglizismus noch nicht untergekommen, der wörtlich übersetzt „gezeichneter Roman“ (nicht Novelle!) heißt. Spätestens seit ich diesen wunderbaren Band Portugal des Franzosen Cyril Pedrosa in Händen halte, weiß ich aber, dass wir mit dem Begriff Comic nicht mehr auskommen. Auch wenn in diesem Band kein Roman erzählt wird, so hat er doch sehr wenig mit einem Sprechblasen-Comic à la Donald Duck zu tun.

In Portugal erzählt Cyril Pedrosa mit der Figur des Zeichners Simon Muchat seine eigene Geschichte. Er ist Enkel portugiesischer Einwanderer und, obwohl er offensichtlich ein begabter Zeichner ist, gerät er in eine Schaffens- und Sinnkrise. Er kann sich nicht zur Arbeit aufraffen, trennt sich von seiner Frau. Leidet er unter einer schlichten Depression oder ist es eine Form von saudade ? Auch die Psychotherapeutin weiß nicht weiter. Doch durch die Rückbesinnung auf seine portugiesischen Wurzeln findet Simon wieder zu sich selbst.

Das geschieht zuerst eher zufällig, als er zu einer Comic-Buchmesse nach Lissabon eingeladen ist, wo er allerdings noch sehr an der Oberfläche schwimmt. Tiefer taucht er dann schon in seine portugiesische Herkunft ein, als er auf der Hochzeit seiner Kusine Agnès in Burgund in engeren Kontakt zu einer Reihe portugiesischer Verwandter kommt.

Schließlich bricht er seine Zelte ab und siedelt nach Portugal um, wo er sich in dem Haus installiert, das einst zur Hälfte seinem Großvater Abel Muchat gehörte, der 1936 nach Frankreich ausgewandert ist. Wie der griechische Sagenheld Antäus, der neue Kraft schöpfte, wenn er den Boden berührte, schöpft auch Simon mehr und mehr Kraft je länger er in das portugiesische Ambiente eintaucht. Das beginnt mit dem liebevollen Umgang der Menschen untereinander, ihre Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft, über die Essgewohnheiten (das Thema „Suppen“ oder: „Wie isst man eine Sardine auf portugiesische Art“?), den Familiensinn (ich sage nur primos !), aber auch der Klatsch, die Subsistenzwirtschaft ( o quintal , „Stückle“ wie die Schwaben sagen), die Armut (Doppelberuf).

Ein zentrales Thema des Buches ist die Emigration. Wir erfahren sehr viel darüber, wie die Portugiesen, sei es heimlich durch Schleuser, sei es mit offiziellem Arbeitsvertrag nach Frankreich kamen. Ein weiteres zentrales Thema ist die Annäherung an diese „weiche, zärtliche Sprache“ (S. 77) Portugiesisch, die Simon ja erst lernen muss, zu der er jedoch sehr schnell eine starke Liebe empfindet. Die deutsche Ausgabe belässt die portugiesischen Einsprengsel im Originaltext und übersetzt nur den französischen Haupttext ins Deutsche.

Das vermittelt uns eine Reihe sehr typischer portugiesischen Wendungen („ que disparate “, „ já lhe deu “, „ não te preocupes “, „ vai dar muito que fazer “, „ se o Sporting tivessse ganhado “ etc., aber leider auch sehr viele verkehrte Formen ( comenca statt começa , prefero statt prefiro , pereiro statt porreiro etc.), ständig fehlende Akzente ( ate , portugues , avo etc.) und eine Häufung von Hispanismen ( papeles statt papéis , barrio statt bairro , ensalada statt salada , poco statt pouco , con statt com , treis y vinte statt vinte e três , etc.). Wieweit diese sprachlichen Schnitzer dem Autor oder seiner deutschen Übersetzerin Annette von der Weppen anzulasten sind, entzieht sich meiner Kenntnis, da mir das französische Original nicht vorliegt.

Sie sind zwar ärgerlich, trüben insgesamt aber nicht den großartigen Eindruck, den dieser Band hinterlässt. Vor allem die gelungene zeichnerische Gestaltung, durch die es Cyril Pedrosa gelingt, das Erzählte optisch umzusetzen und den Leser/ Betrachter zu fesseln und ihn durch unterschiedliche Farbgebung auf die verschiedenen Erzählebenen (pralle Gegenwart, Rückblenden, Reflexionen, historische Dokumente, Fotogalerien) zu ziehen. Eigentlich ist jede der 250 Seiten ein graphisches Kunstwerk, in das man sich gerne versenkt. Und selbst beim wiederholten Lesen entdeckt man immer wieder neue Details. Entstanden ist ein „gewichtiger“ (1,5 Kilo!), liebevoll und luxuriös gestalteter hard cover -Band, der seine 37 Euro allemal wert ist.

Cyril Pedrosa, Portugal Aus dem Französischen von Annette von Weppen. Reprodukt Berlin 2012. € 37,-