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Fast eine Weihnachtsgeschichte

Von Adelina Almeida Sedas *

Es war noch lange nicht Weihnachten. Sommer war es im Jahre 1947 im Süden Portugals. Einer dieser Sommer, in denen man kaum wagte zu atmen oder sich zu bewegen, um die Energie und das Wasser des Körpers zu sparen.

Sechs Kinder waren wir noch im Hause und eine Menge Erwachsene, die da waren, um das Leben der Kinder zu verwalten. Tante Lucília war für die richtige religiöse Erziehung der Kinder zuständig.

Sie kam eines Tages aus der Kirche und sagte, am nächsten Sonntag würden Kinder aus Österreich zu uns kommen. Padre Mário hätte gesagt, jede Familie, die es sich leisten könne, solle ein Kind bei sich aufnehmen. Die armen Kinder hätten ihre Eltern verloren, wären beinahe verhungert... Wir sollen ihnen helfen!

"Wir sind schon genug hier“, brummte der Großvater, die höchste Autorität der Familie. ,,Der Papst kann sie aufnehmen, er hat ein großes Haus!" Schweigen. Großvätern widerspricht man nicht!

Tante Lucília verabredete mit uns Mädchen, am Sonntag zur Messe zu gehen. Um 12 Uhr! Der Kirchhof, ein leerer Granitplatz ohne Bäume und ohne Schatten, wo wir im Winter Kriegen und Völkerball spielten, wirkte an diesem Sonntag im Juni um 12 Uhr wie ein Backofen. Die Sonne schien gnadenlos auf die grauen Steine Nichts regte sich. Nicht einmal die schlafenden Eidechsen bewegten die Augen.

Dort in einer Ecke des Hofes lehnten sich an die Wand ein paar blonde, blasse Kinder und suchten Schutz und Schatten. Es waren Kinder aus Österreich. Ihre Eltern waren verschollen. Das Rote Kreuz hatte das Leben der Kinder retten wollen und die Kinder an einen Ort geschickt, wo sie unbesorgt sich erholen und aufwachsen könnten.

Sie wirkten erschrocken. Die blonden, schmu-tzigen, verschwitzten Haare klebten, kurzgeschoren und stumpf, über den ängstlichen Gesichtern. Sie alle trugen Stiefel ohne Socken und um den Hals ein Schild mit ihren Namen und dem Geburtsdatum. Ansonsten hatten sie nichts.

Sie sprachen nicht. Es wäre auch sinnlos gewesen. Keiner hätte sie verstanden! Aneinander lehnend suchten sie Schutz vor einer Gruppe Menschen, die sie kritisch und neugierig beobachteten. Diese Kinder waren zum Aussuchen da. Jeder, der wollte, konnte eins mit nach Hause nehmen.

Wir wollten nur zur Mittagsmesse gehen; aber da waren diese traurigen Kinderaugen ... Wir gingen nicht zur Messe. Statt dessen kam Gertrud - 8 Jahre alt - mit uns nach Hause. Sie war für unseren Kindergeschmack häßlich: dünne, blonde, glatte Haare. Rotes Gesicht, Sommersprossen. Abgekaute Fingernägel, große Füße.

Auf dem Weg nach Hause sprachen wir kein Wort miteinander. Jeder von uns beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen und der Furcht vor dem Großvater.

Zu Hause saß er schon an dem großen, gedeckten Tisch. "Haare kämmen, Hände waschen und ab zu Tisch!" Gertrud hinter uns her. Großvater las eine große Zeitung. Wir setzten uns an den Tisch. Gertrud auch Für sie war nicht gedeckt! Großvater faltete die Zeitung zusammen, schaute auf Gertrud und schob seinen Teller zu ihr, ohne ein Wort zu sagen.

Gertrud, die wir von nun an nach portugiesischer Aussprache „Catruda“ nannten, durfte bei uns bleiben! Catruda ging mit mir zur Schule, hatte irgendwann wunderschöne, lange blonde Zöpfe, schöne Lackschuhe und redete Portugiesisch.

Wir haben auch einige wichtige deutsche Wörter von ihr gelernt: Kaputt und Scheiße... „Zeigt her eure Füßchen“ konnten wir irgendwie auch mit ihr zusammen tanzen und singen.

Es war für uns unfaßbar, als sie eines Tages wegge-hen mußte. Tante Lucília ließ für sie ein wunderbares weißes Kleid nähen mit breiten Rüschen und großem Saum. Im Saum versteckten wir eine goldene Kette, goldenes Armband, goldene Ringe und eine Uhr Wahre Schätze, Geschenke der Familie und von Freunden.

Als sie ging, blieben wir Kinder zu Hause und weinten. Großvater brachte sie zum Bahnhof und trug ihren schweren Koffer.

Gertrud hat uns noch ein paar Mal geschrieben. Schöne Briefe mit vielen Herzchen und Blümchen. In den letzen 35 Jahren haben wir nichts mehr von ihr gehört. Sie lebt irgendwo! Vielleicht ganz in meiner Nähe. Vielleicht hat sie jetzt auch eine große Familie, Kinder, Enkelkinder. Vielleicht erzählt sie ihren Liebsten, wie es für sie in Portugal mitten im Sommer ‘47 Weihnachten wurde.

Ich hoffe, sie hat es nicht vergessen!


* Adelina Almeida Sedas lebt seit über 30 Jahren in Hamburg. Sie musste als Studentin zusammen mit ihrem Mann Guilherme de Almeida vor den Verfolgungen durch die PIDE, die portugiesische Geheimpolizei unrühmlichen Andenkens, flüchten. Sie ist als Sozialarbeiterin für die Caritas tätig und gehört zum Vorstand des „Kulturkreises Portugal in Hamburg“.

Ihre Weihnachtsgeschichte stammt von Anfang der 90er Jahre und wurde bereits mehrfach veröffentlicht, u.a. in dem «Jornal da Costa do Sol».
Der deutsche Text ist nicht als Übersetzung zu verstehen; er ist vielmehr die zu einem späteren Zeitpunkt auf deutsch erneut aufgeschriebene Geschichte.






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Portugal-Post Nr. 8 / 1999