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Kosmopolitische Lebensentwürfe
Portugiesische Juden in Deutschland

Von Peter Koj *

Als es im strengen Winter 1657/1658 der schwedischen Armee gelang, bis vor die Tore Hamburgs zu rücken, flohen die Juden des damals noch dänischen Altona in die Hansestadt, um bei „Portugiesen und anderen Bürgern“1 Schutz zu suchen. Wer waren diese Portugiesen? Was hatte sie in den fernen Norden verschlagen? Und was brachte sie dazu, die in der Freien und Hansestadt unerwünschten Juden aufzunehmen?

Es gab Mitte des 17. Jahrhunderts in Hamburg eine starke portugiesische Präsenz. Die „natio lusitana“, wie sie in den Urkunden der Zeit genannt wurde, war mit etwa 600 Seelen die größte Ausländergemeinde der damals 30 000 Einwohner zählenden Elbmetropole.2 Mit zwei Prozent der Gesamtbevölkerung waren die Portugiesen des 17. Jahrhunderts sogar anteilmäßig stärker vertreten als die 7000 Portugiesen, die heute in Hamburg leben. Diese stellen zwar die größte Portugiesen-Niederlassung in der Bundesrepublik dar, machen aber kaum ein halbes Prozent der Millionenstadt Hamburg aus.

Ganz andersartig sind auch der soziale Hintergrund und die Motive für die Emigration der ersten Hamburger Portugiesen. Sie präsentierten sich bei ihrer Ankunft an der Elbe zwar als Katholiken, waren aber in Wirklichkeit Nachkommen iberischer Juden, auch Sefarden genannt (im Gegensatz zu den Aschkenasim, den Ost- oder hochdeutschen Juden). Sie waren Neuchristen („cristãos novos“), davon eine Reihe nur zum Schein (Marranen).

Juden auf der iberischen Halbinsel: ein Rückblick

Zum besseren Verständnis der Präsenz portugiesischer Sefarden in Hamburg muß ein kurzer Rückblick auf die gesamtiberische Entwicklung getan werden. Juden hatte es auf der iberischen Halbinsel schon seit Römerzeiten gegeben. Während der langen Besiedlung durch die Araber (seit 711), mit denen sie weitgehend in friedlicher Symbiose lebten, blühten jüdische Kultur und Geistesleben. Toledo löste Babylon als Hauptstadt der jüdischen Diaspora ab.

Nach der Vertreibung der Araber durch die sogenannte Reconquista wurden die des Arabischen mächtigen Juden zu Vermittlern all des Wissens, in dem die Araber damals führend waren: von der Medizin über die Mathematik zur Geographie, Kartographie, Astronomie und Nautik. Ohne diesen judeo-arabischen Beitrag ließe sich die frühe maritime Expansion Portugals nur sehr schwer erklären.

Sefarden waren maßgeblich beteiligt an Portugals „Öffnung der Welt“, so der Entdecker Madeiras, João Gonçalves Zarco, der Kartograph Jehuda Cresques, die Astrologen und Mathematiker Abraham und Samuel Zacuto, die Kartographen Rui Faleiro und José Vizinho, der Seefahrer und Chronist Fernão Mendes Pinto („Peregrinação“). Kolumbus selbst war mit einer hochgestellten portugiesischen Sefardin, der Tochter des Gouverneurs von Madeira, Filipa Moniz Perestrelo, verheiratet.3

Es hat auch Spekulationen über die zeitliche Koinzidenz des Unternehmens Kolumbus und der Vertreibung der Sefarden aus dem Machtbereich der spanischen Könige Isabel und Ferdinand (August 1492) gegeben.4 Damals mußten schätzungsweise 200 000 Sefarden die iberische Halbinsel verlassen.

Einen solchen Massenexodus hat es in Portugal nie gegeben. Hier lebten die Juden bis Ende des 15. Jahrhunderts respektiert und teilweise schon stark assimiliert. Man betrachte nur die Figur des Oberrabbiners auf dem rechten Flügel des berühmten Altarbildes der Anbetung des S. Vicente, wie er stolz das Pentateuch emporhält (um 1460 entstanden, Nuno Gonçalves zugeschrieben).

Als „urban middle class“, die das Vakuum zwischen der armen Landbevölkerung und dem „faulen“ Adel füllte, spielten die portugiesischen Sefarden eine gesellschaftlich wichtige Rolle. Kein Berufszweig war ihnen verschlossen, und so finden wir Juden ebenso als einfache Handwerker wie auch als reiche Kaufleute, Seefahrer, Ärzte, Minister. Ihre Wohnviertel, die „judiarias“, waren keine Gettos, sondern lagen in bester Wohnlage in den Ortszentren. Sie liebten die Prachtentfaltung, was häufig den Neid und Unwillen ihrer christlichen Nachbarn hervorrief.Sie waren zumeist gebildet und beherrschten mehrere Sprachen.

Der Prozeß der allmählichen Assimilierung der portugiesischen Sefarden durch freiwillige Konversion und/oder Einheirat in christliche Familien wurde durch Manuel I. gewaltsam beschleunigt, als er am Pessachfest 1497 „seus judeus“, wie er seine Juden nicht ganz uneigennützig nannte, zwangstaufen ließ, um damit sein eigenes, unter dem Druck seiner spanischen Schwiegereltern Isabel und Ferdinand erlassenes Vertreibungsedikt zu unterlaufen. Die dadurch eingeleitete Vermischung mit der altchristlichen Bevölkerung führte zu einer fast völligen Zerstörung jüdischer Identität, so daß schon der Padre Vieira sagen konnte: „Portuguezes e judeus já são synónimos“.5

Die ehemaligen Sefarden wurden durch die Zwangskonversion gesellschaftlich noch aufgewertet, Einheirat oder Adoption in altchristliche Familien waren keine Seltenheit. Durch ihre Weltgewandtheit und Sprachenkenntnisse spielten die Neuchristen eine Schlüsselrolle bei der Erschließung der durch die portugiesischen „Entdeckungen“ entstehenden Märkte in Afrika, Asien und Südamerika.

Auswanderungsbewegungen

Soweit sie als Marranen noch jüdische Glaubenselemente bewahrt hatten, mußten sie allerdings vor der Inquisition auf der Hut sein, die 1536, also ein halbes Jahrhundert nach ihrer Einführung in Spanien, auch in Portugal ihre unheilvolle Tätigkeit aufnahm. Für die portugiesische Inquisition, angeblich weniger grausam als ihr spanisches Pendant, war die Bewahrung des reinen Glaubens nur ein Vorwand, mit den Mitteln eines totalitären Geheimdienstes (Bespitzelung, Folterung, Schauprozesse und öffentliche Hinrichtungen) die unbequeme „lntelligentsia“ des Landes in Schach zu halten.6

Diese sich weitgehend aus neuchristlichen Kreisen rekrutierende „Intelligentsia“ geriet zusätzlich unter Druck, als 1580 die Dynastie der Aviz erlosch und Portugal in Personalunion vom spanischen Königshaus regiert wurde. Insbesondere die „limpieza de sangre“, ein früher Vorläufer des „Arier“-Nachweises, hätte den inzwischen erreichten sozialen Standard in Frage gestellt.

So lassen sich seit den Achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts verstärkt Auswanderungsbewegungen unter den Portugiesen sefardischer Herkunft beobachten. Bezeichnenderweise suchten diese jedoch weniger die blühenden sefardischen Gemeinden auf, die ihre spanischen Glaubensbrüder nach der Flucht von 1492 im Mittelmeeraum, vor allem im Osmanischen Reich, aufgebaut hatten. Offensichtlich waren religiöse Gründe weniger entscheidend für die Wahl ihres Zufluchtsortes.

Die Portugiesen, die Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts ihre Heimat verließen, waren häufig Überseekaufleute, und so war es für sie das Natürlichste, die Häfen entlang der von ihnen bisher befahrenen Handelsrouten anzusteuern. Das waren zum einen die ultramarinen portugiesischen Niederlassungen in Afrika, Asien und Südamerika. Zum anderen waren es die Häfen im nordwestlichen Europa.

Hauptanziehungspunkt war Antwerpen, das Brügge als traditionellen Handelspartner Portugals abgelöst hatte. Ende des 15. Jahrhunderts gab es an der Schelde die erstaunliche Präsenz von fast 100 portugiesischen Firmen, die sowohl in altchristlichem als auch in neuchristlichem Besitz waren.7 Doch die Wirren des flämisch-spanischen Krieges vertrieben die in Antwerpen ansässigen Portugiesen.

Einige wie zum Beispiel die Familien Rodrigues d’Évora, Ximenes, Dinis und Álvares Caldeira gingen nach Köln, wo sie ein kurzes, aber beeindruckendes Gastspiel als Bankiers und Juwelenhändler gaben.8 Die meisten zogen weiter nach Amsterdam und Hamburg. In der Hansestadt präsentierten sie sich jedoch keineswegs als arme Flüchtlinge mit der sprichwörtlichen „mala de cartão“ ihrer Landsleute des 20. Jahrhunderts unter dem Arm. Auf ihren Schiffen führten sie ein stattliches Gepäck, reich an materiellen und kulturellen Gütern, mit, das sie als Leute von Welt auswies, die für ihre neue Heimat nur eine Bereicherung darstellen konnten.9

Die „Lisbon Connection“

So wurde sehr schnell die belebende Wirkung der Portugiesen auf den nach dem Niedergang der Hanse ins Stocken geratenen Seehandel spürbar. Lissabon hatte bekanntlich Venedig als Drehscheibe des Welthandels abgelöst. An der Tejomündung wurden nun die Schätze des Nahen und Fernen Ostens, aus Afrika und Brasilien umgeschlagen, allen voran natürlich Gewürze, aber auch Gold, Edelsteine, Korallen, Elfenbein, Porzellan, Zucker und – Sklaven.

Die Schiffslisten zu Beginn des 17. Jahrhunderts zeigen, wie sehr Hamburg von der „Lisbon Connection“ profitierte.10 Zur Tarnung, um die kostbare Fracht nicht zu gefährden und die Geschäftsfreunde oder Familienangehörigen in Portugal und den portugiesischen Kolonien nicht zu kompromittieren, deutschten die Hamburger Sefarden ihre portugiesischen Namen ein. So wurde aus João Francês Hans Frantzen, aus Álvaro Dinis Albrecht de Nies, aus Belmonte Schönberg.

Die Hamburger Portugiesen importierten nicht nur „Kolonial“-Waren, sondern auch die Erzeugnisse ihrer alten Heimat: Wein, Kork, Wolle, Trockenfrüchte, Meeressalz und Fayencen. Diese werden aufgrund einer irrigen Annahme von Justus Brinckmann noch heute in den Hamburger Museen als „Hamburger Fayencen“ geführt.11 Der Importtätigkeit der Hamburger Portugiesen verdanken wir offensichtlich auch eines der wenigen portugiesischen Wörter in der deutschen Sprache: Marmelade (aus portugiesisch „marmelada“, Quittenmus).

Die Portugiesen erwiesen sich nicht nur als belebendes Element im Überseehandel, sie setzten auch ihr finanzielles Geschick gewinnbringend für die Hansestadt ein. So gehörten 30 Portugiesen zu den Gründungsmitgliedern der ersten Hamburger Bank (1619), und seit den zwanziger Jahren widmeten sie sich überwiegend dem Makler- und Assekuranzgeschäft. Noch im Jahre 1692 waren von den 120 vereidigten Hamburger Maklern allein 20 Portugiesen.

Ihr Reichtum erlaubte es den Portugiesen, Fürsten und Potentaten mit Subsidiengeldern bei der Finanzierung von Feldzügen unter die Arme zu greifen. Dabei spielten politische oder religiöse Interessengegensätze keine Rolle, wie das Beispiel von Diogo Teixeira zeigt, der offizieller „paguista“ des spanischen Königs war.

Die Kosmopoliten

Doch die ausländischen Fürsten machten sich nicht nur die Finanzkraft der Hamburger Portugiesen zunutze. Sie ernannten einige von ihnen zu ihren „Residenten“, das heißt konsularischen Vertretern, und so werteten die Portugiesen Hamburg, das bekanntlich heute noch der weltweit größte konsularische Standort ist, gesellschaftlich auf. Als Beispiel sei nur Diogo Teixeiras Sohn Manuel genannt, Resident der Königin Christine von Schweden und Besitzer eines prachtvollen Stadtpalais, „in dem mancher hohe Herr verkehrte und eine Atmosphäre der freien Geistigkeit herrschte ...“12

Voll Bewunderung schreibt ein Zeitgenosse: „Wie herrlich die Portugiesische Juden daselbst leben siehet man mit Verwunderung; der sogenannte reiche Jude Manuel Texeira, der zu meiner Zeit anno 1684 und folgenden Jahren lebte/war der Königin in Schweden CHRISTINA Resident/fuhr in einer kostbaren Carosse, darauf hinten und vorn einige/und gemeiniglich Christliche/Diener stunden/welche mit grosser Reverenz bey dem Ein- und Aussteigen ihn bedienten/fuhr er über den grossen Neuen Marckt/so stunde ihm die gantze Haupt-Wache im Gewehr/er wohnte in einem fürtrefflichen Pallast/grosse Herren gaben ihm Visiten und spielten mit ihm.“13

Doch Hamburg profitierte nicht nur von den kaufmännischen, finanziellen und diplomatischen Aktivitäten seiner Portugiesen. Von großer Bedeutung waren auch die sefardischen Ärzte, allen voran Rodrigo de Castro (geboren 1546 in Lissabon). Er galt als „Fürst der Medicin seiner Zeit“14 und hat in seinen mehrfach nachgedruckten Büchern fortschrittliche Ideen zur Frauenheilkunde, Pestbekämpfung und gesellschaftlichen Rolle des Arztes entwickelt.

Durch seinen unerschrockenen Einsatz bei der Bekämpfung der Hamburger Pest von 1596 erwarb er sich große Sympathien unter den Hamburgern. Er durfte ausnahmsweise ein Haus in der Altstadt erwerben, während andere Portugiesen das entsprechende Verbot mit Hilfe von Strohmännern umgehen mußten. Sein Sohn Benedikt setzte die – übrigens bis heute ununterbrochene15 – medizinische Tradition fort und war ein gesuchter Leibarzt an den europäischen Fürstenhöfen.

Die Portugiesen bereicherten auch als Schriftsteller, Philosophen, Theologen und Buchdrucker die geistig-kulturelle Szene an der Elbe. Laut Gershom Scholem war Hamburg eine der Hochburgen des Mitte des 17. Jahrhunderts die ganze Welt bewegenden Streites um den falschen Sabbatai Zwi.16 In Hamburg schrieb Uriel da Costa seine aufklärerischen“Propostas contra a tradição“, und noch Ende des 18. Jahrhunderts verfaßte Abraham Meldola seine voluminöse „Grammatica portugueza“.17

Für Weltläufigkeit sorgten auch die sefardischen Rabbiner, die im Stile von modernen Managern den Standort wechselten. Als extremes Beispiel sei Yoseph Shlomo Delmedigo genannt, der auf seinem Prager Grabstein als Hamburger Rabbi ausgewiesen wird, aber folgende Stationen durchlaufen hat: Kreta (Geburt), Padua, wieder Kreta, Ägypten, Konstantinopel, Polen, Rußland, Litauen, Hamburg, Glückstadt, Amsterdam, Frankfurt am Main, Worms und Prag.18

Ähnlich weltweit mußten auch die Heirats-vermittler agieren, da die Hamburger Portugiesen-Gemeinde doch relativ klein war und lange Zeit eine Verbindung mit einer Aschkenasin bzw. einem Aschkenasen oder gar einer Christin bzw. einem Christen undenkbar war. So wurde Hamburg durch familiäre Bande seiner Portugiesen mit der ganzen Welt verknüpft, von der Karibik über Surinam und Brasilien bis nach Afrika und Indien.

Hamburg nennt sich heute gerne das Tor zur Welt. Doch im 16. und 17. Jahrhundert waren die Portugiesen die eigentlichen Hamburger Kosmopoliten. Die Hamburger Bevölkerung hatte eher Schwierigkeiten mit diesen „Exoten“. Das begann mit den unaussprechlichen portugiesischen Namen, ging über die neidisch registrierte äußere Prachtentfaltung und endete mit dem vom protestantischen Klerus angeheizten Antijudaismus.19

Animositäten und Übergriffe

Hamburg war weit entfernt von Amsterdams Liberalismus und der im Utrechter Frieden (1579) verankerten Toleranz. Es gab zwar keine Pogrome, aber Schikanen und Übergriffe, so wenn der greise Dr. Benedikt de Castro mit Steinen beworfen wurde oder den portugiesischen Kaufleuten in der Börse die Mäntel zerschnitten wurden.20 Häufig genügte nur ein kleiner Funke wie in der berühmten Episode, als die zum Katholizismus übergetretene Christine von Schweden am Haus ihres Residenten Manuel Teixeira ein Transparent entfalten ließ, auf dem Papst Clemens IX. gefeiert wurde. Die wütende Menge stürmte daraufhin das Haus, dessen Bewohner und ihr königlicher Gast nur mit knapper Not durch einen Hinterausgang entrinnen konnten. Dieser hieß daher im Volksmund noch lange „Christinenpförtchen“.21

Eifrig imitiertes Vorbild waren die Portugiesen, die ihre farbigen Diener mit an die Elbe brachten.22 Auch aschkenasische Diener, die „criados da nação“, waren ihnen gegönnt, und diese durften sogar während der eingangs erwähnten Schweden-Belagerung intra muros der ansonsten „judenfreien“ Hansestadt bei ihren portugiesischen Herrschaften bleiben. Doch bei christlichen La kaien hörte der Spaß auf! Der Senat, der aus naheliegenden wirtschaftlichen Gründen seine Hand schützend über die Portugiesen hielt, sah sich gezwungen, diesen vom Neid diktierten Animositäten Rechnung zu tragen. Schon im ersten Fremdenvertrag (19. Februar 1612) war den Portugiesen auferlegt worden, sich „friedlich und eingezogen“ zu verhalten. Im Reglement von 1650 wurden die Portugiesen erneut aufgefordert, „keine ärgerliche Uppigkeit“ zu treiben und ihre Toten mit „keinen Gepreng“ zu bestatten.

Da nützte es den Portugiesen wenig, sich als Menschen von Welt zu erweisen und die freundschaftlichen Beziehungen zum Senat mit kleinen Geschenken zu versüßen: Besonders beliebt waren Puder oder Kandiszucker oder auch Pralinen. Der reiche Manuel Teixeira stiftete gar das Kupferdach der neuerbauten St. Michaelis-Kirche, als „Michel“ bekanntes Ex-libris der Hansestadt. Das neue Reglement von 1697 fiel dennoch so restriktiv aus, daß eine Reihe von Portugiesen, unter anderen die Familie Teixeira, der Hansestadt den Rücken kehrte.

Die benachbarten Städte Altona und Glückstadt stellten trotz großzügiger Privilegien des dänischen Königs keine Alternative dar. Sie waren den Portugiesen einfach zu provinziell, wie aus dem schönen Bonmot des Arztes Yoseph Shlomo Delmedigo hervorgeht: „Glückstadt ist keine Stadt und Glück hat es uns auch nicht gebracht.“ Es gab Einzelabwanderungen in die östlichen Landesteile wie nach Berlin, die aber nicht zur Gründung von portugiesisch-jüdischen Gemeinden reichten. Auch in Berlin spielten die Portugiesen eine glänzende Rolle. Erinnert sei nur an Henriette Herz, geborene de Lemos, die zehn Sprachen beherrschte und mit ihren Freundinnen Rahel Varnhagen von Ense und Dorothea Schlegel zu den führenden Figuren der Frauenemanzipation und der Berliner literarischen Salons gehörte.23

Die größte Attraktion übte allerdings das geschäftige und liberale Amsterdam aus, das mit 3500 Sefarden endgültig zum „Jerusalem des Nordens“ avancierte.24 Die großen Tage der Hamburger Portugiesen-Gemeinde waren hingegen gezählt. Die Mitgliederzahl stagnierte bei 200 bis 300. Das endgültige Aus kam durch die braunen Machthaber.25 Nachfahren der kosmopolitischen Hamburger Portugiesen trifft man, wenn überhaupt, allenfalls im Ausland an, so zum Beispiel Portugals Chefdirigenten Álvaro Cassuto. Obwohl bereits in Portugal geboren (1938 in Porto als Sohn des 1933 emigrierten Alfonso Cassuto), fühlt er sich als Hamburger. Er spricht fließend Deutsch, allerdings mit amerikanischem Akzent, dafür Portugiesisch mit deutschem Akzent.26

Nur noch steinerne Zeugen

In Hamburg selbst trifft man heute nur noch auf steinerne Zeugen seiner portugiesischen Vergangenheit: Auf dem portugiesisch-jüdischen Friedhof an der Königstraße finden sich etwa 2000 Grabplatten, deren üppig-künstlerische Gestaltung (Familienwappen, Putten, Bibelszenen) eher an einen christlich-barocken Friedhof erinnern. Im starken Kontrast zu den schlichten Steinen des aschkenasischen Teiles manifestiert sich hier, ähnlich wie auf den portugiesisch-jüdischen Friedhöfen in Ouderkerk (bei Amsterdam) und Curaçau, das Selbstbewußtsein einer elitären Minderheit.


* Der hier abgedruckte Essay von Peter Koj erschien erstmals 1994 in der Zeitschrift für Kulturaustausch, 44. Jahrgang 1994/1, (Titel: „Ein Blick aus weiter Ferne – Zu den Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und Portugal, Teil 1“) des Instituts für Auslandsbeziehungen, Stuttgart.Der Text ist hier ungekürzt und unverändert wiedergegeben worden. Die in den Anmerkungen als „im Druck“ genannten Bücher sind inzwischen erschienen.

1Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln. Frankfurt am Main 1980, S. 17
2Peter Koj: Die ersten Portugiesen in Hamburg. In: lberoamericana, 12. Jahrgang (1988) Nr. 2/3 (34/35), S.69-92
3Eine sefardische Herkunft von Christoph Kolumbus, alias Cristobal Colon, versuchen nachzuweisen: Sarah Leibovici (Christophe Colomb Juif. Paris 1986) und Augusto Mascarenhas Barreto (O Português. Lissabon 1988, engl. Übersetzung London 1992).
4Simon Wiesenthal: Segel der Hoffnung. Berlin/Frankfurt am Main 1991. Dazu mein Artikel „Mein Vater war portugiesischer Jude“. Die Sefarden und das Jahr 1992. In: Tranvía Nr. 28 (März 1993), S. 33 f.
5Zitiert nach Yosef Hayim Yerushalmi: From Spanish Court to Italian Ghetto. Seattle/London 1981, S. 10. Und noch bei Theodor Fontane heißt es: „De Mezas Vater war ein portugiesischer Jude, alle Portugiesen sind eigentlich Juden ... „ (Unwiederbringlich. Zürich 1987, S. 111).
6S. dazu die Einleitung von Yosef Kaplan zu seinem Buch über Isaac Orobio de Castro („From Christianity to Judaism“. Oxford University Press 1989).
7Hans Pohl: Die Portugiesen in Antwerpen (1567-1648) Zur Geschichte einer Minderheit. Wiesbaden 1977
8Hermann Kellenbenz: History of the Sephardim in Germany. In: The Sephardi Heritage, Volume II. London 1989, S. 26-40, S. 27
9Peter Koj: A bagagem dos primeiros portugueses vindos para Hamburgo. In: Actas do 4o Congresso da Associação Internacional de Lusitanistas (im Druck)xt
10Hermann Kellenbenz: Unternehmerkräfte im Hamburger Portugal- und Spanienhandel 1590-1625. Hamburg 1954
11Rafael Salinas Calado: Faiança Portuguesa da Primeira Metade do Séc. XVII. In: Cerâmicas Ano I - No 2 (März 1989), S. 15 bis 18.
Dazu mein Artikel „Ein Hamburger Museum irrt“ in: taz hamburg vom 11.5.1990, S.27.

12Hermann Kellenbenz: Sephardim an der Unteren Elbe. Ihre Wirtschaftliche und Politische Bedeutung vom Ende des 16. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Wiesbaden 1958, S. 392
13Johann Jacob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten Bd. V Franckfurt und Leiptzig 1714, S. 374
14Meyer Kayserling: Biblioteca Española-Portugueza-Judaica. Strasbourg 1890, S. 280
15Der 1943 in Theresienstadt umgekommene Dr. Alfonso de Castro war Tropenmediziner. Sein Sohn Hans, ebenfalls Tropenarzt, überlebte Dachau, während sein Sohn Alfonso (geb. 1932) in Hamburg praktizierender Zahnarzt ist.
16Gershom Scholem: Sabbatai Zwi. Der mythische Prophet. Frankfurt am Main 1992, S. 625-647
17Zu den einzelnen Manifestationen des literarischen und kulturellen Schaffens der Hamburger Portugiesen sei auf den im Druck befindlichen Aufsatzband „Die Sefarden in Hamburg“ (hrsg. von Michael Studemund Halévy im Felix MeinerVerlag, Hamburg) hingewiesen.
18Isaac Barzilay: Yoseph Shlomo Delmedigo. Leiden 1974
19Joachim Whaley: Religiöse Toleranz und sozialer Wandel in Hamburg 1529-1819. Hamburg 1992
20Günther Böhm: Die Sephardim in Hamburg. In: Die Juden in Hamburg 1590-1990. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung „Vierhundert Jahre Juden in Hamburg“, hrsg. von Arno Herzig. Hamburg 1991, S. 21-40, S. 24 f.
21„Hamburgs berühmte und berüchtigte Häuser in historischer, criminalistischer und socialer Beziehung“. Dargestellt von Dr. Bernhard Heßlein. Hamburg 1850, Kapitel 4, S. 97-111
22Peter Martin: SchwarzeTeufel, edle Mohren. Afrikaner in Bewußtsein und Geschichte der Deutschen. Hamburg 1993, S. 64-66
23Ein Zitat aus ihrer Autobiographie hat den Titel für eine interessante Ausstellung von Sabine Kruse und Bernt Engelmann ergeben: „Mein Vater war portugiesischer Jude...“ Katalog im Steidl Verlag, Göttingen o.J. (1992)
24Zum Beitrag der Sefarden zum Merkantilismus der Zeit im allgemeinen und zur Bedeutung Amsterdams als liberale Handelsmetropole im besonderen seien hier nur zwei Standardwerke neueren Datums aufgeführt: Jonathan I. Israel: European Jewry in the Age of Mercantilism (1550-1750). Oxford 1985, und Henri Méchoulan: Amsterdam au temps de Spinoza, Argent et Liberté. Paris 1990 (deutsche Übersetzung: Das Geld und die Freiheit, Amsterdam im 17. Jahrhundert. Stuttgart 1992).
25Michael Studemund-Halévy und Peter Koj: ZAKHOR. Erinnerungen und Gedenken an die Hamburger Portugiesen zur Zeit der Shoa. In: Tranvía Nr. 28 (März 1993), S. 35 bis 40
26Peter Koj: Sechzig Jahre danach. Gespräch mit Álvaro Cassuto. In: Die Sefarden in Hamburg (im Druck)






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Portugal-Post Nr. 8 / 1999