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ESSA NOSSA DITOSA LÍNGUA VII
Calão - die revolutionäre (?) Kraft von unten

Von Peter Koj

Der 25. April wirkte auf den verschiedensten Gebieten wie eine Befreiung von jahrzehnte- oder sogar jahrhundertealten Bindungen und Zwängen. Da hätte, so sollte man meinen, auch auf dem sprachlichen Sektor sich einiges tun müssen. Die portugiesische Sprache mit ihrer komplizierten Struktur, ihrem differenzierten Ausdrucksrepertoire und starren grammatischen Regelwerk kann für denjenigen, der sie meisterlich beherrscht, durchaus als Mittel zur Ausübung von Macht und Konsolidierung des herrschenden Klassensystems dienen. Doch wurde z.B. weder die Rechtschreibung vereinfacht, obwohl die Brasilianer, die da schon einen Schritt weiter sind, dies immer wieder anmahnen (sog. Acordo ortográfico), noch wurden die starren und willkürlichen Vorschriften zur Stellung der Personalpronomen ein wenig gelockert (auch hier machen sich die Brasilianer das Leben viel leichter!).

Im Gegenteil: offizielle Verlautbarungen wie die Aufrufe des Revolutionsrates und anderer Gremien waren genauso bürokratisch gestelzt und mit volksfernen Begriffen (expressões eruditas) gespickt wie die ihrer salazaristischen Vorgänger. Und die in Portugal weit verbreitete "Sucht", Namen und Begriffe durch Sigeln (siglas), also Abkürzungszeichen, zumeist die Anfangsbuchstaben, zu ersetzen (auch darüber müßte in dieser Reihe mal gehandelt werden!), trieb damals wahre Blüten. So schwirrten nicht nur die Initialen der nach dem Sturz der Diktatur wie Pilze aus dem Boden schießenden Parteien und politischen Gruppierungen durch die Luft, von der PPD über die UDP zur PCTP, LCI, AOC, MES, MRPP, PCP (R), PCPm-1, MDMP, UJC, FSP, GDUP etc etc. Auch solche Sigeln wie PREC (= Processo Revolucionário em Processo), RALIS (= Regimento de Artilharia de Lisboa) oder COPCON (= Comando Operacional do Continente) waren Mitte und Ende der 70er Jahre gängige sprachliche Münze, selbst wenn die wenigsten wußten, was sich hinter diesen Abkürzungen verbarg.

Auf einem Sektor allerdings gab es - wenn auch nur vorübergehend - so etwas wie eine "revolutionäre" sprachliche Entwicklung, nämlich das Vordringen des tu und die damit verbundene Vereinfachung der komplizierten und zur Salazarzeit zu skurriler Blüte getriebenen Kunst der Anrede. Dort wo man sich vorher noch damit herumquälte, ob man sein männliches Gegenüber nun mit o Senhor oder Senhor Doutor oder sogar Vossa Excelência anreden sollte, bzw ob die betreffende Portugiesin nun mit Dona oder Senhora Dona oder womöglich nur mitSenhora angesprochen zu werden verdient, wurde nun fröhlich geduzt. Damit wurde ein sehnlicher Wunsch der aus Deutschland emigrierten Schriftstellerin Ilse Losa erfüllt, die in einem Artikel im Diário Popular vom 30.3.1967 bereits anmahnte, es sei nun allmählich an der Zeit, kräftig auszujäten unter den "1001 Arten, seinen Mitmenschen durch die Anrede auf eine bestimmten Platz festzulegen". Doch wie gesagt: dies war nur eine kurzlebige Angelegenheit und inzwischen gelten wieder weitgehend die vorrevolutionären Formen der feinen portugiesischen Anrede.

Ein anderes interessantes sprachliches Phänomen im Zusammenhang mit der Revolution des 25. April ist der sog. Calão, auch gíria oder algaravia genannt. Er entspricht dem Englischen Slang oder dem Französischen Argot, will heißen die zur offiziellen (Hoch)Sprache parallel laufende Volkssprache oder Sprache der Straße. Sie gibt es in Portugal beileibe nicht erst seit der Nelkenrevolution. So wird im Cancioneiro Geral, einer satirischen Gedichtsammlung des 16. Jahrhunderts, bereits aravia verwandt. Aravia bzw. al aravija (heute: algaravia) heißt einfach "arabische Sprache", während Calão sich von caló, dem spanischen Zigeuner, ableiten und gíria mit französisch jargon zusammenhängen soll, ein Begriff, der ja auch bei uns in diesem Zusammenhang geläufig ist.

Calão, Argot, Slang, die Sprache der Straße, hätte nun, wo das Volk am meisten zu sagen gehabt hat (O povo é que mais ordena) - wie José Afonso in seinem Grândola Vila Morena sang - sich zu neuer Blüte enfalten müssen. Und in der Tat gehörte es nun zum guten Ton, vor allem unter jüngeren Leuten und Intellektuellen, von seinen Mitmenschen nur noch als gajo ("Typ", "Kerl") oder gaja zu sprechen. Wenn man Glück hatte, war man sogar ein gajo porreiro ("ein toller Typ"). Vor allem war es wichtig, das Wort (= Anrede im Stile von "Eij, Mann" oder "Eij, Alter") möglichst viel zu verwenden. Ich traf damals Portugiesen, die es sich nicht nehmen ließen, mindestens drei- bis viermal pá in jedem ihrer Sätze unterzubringen. Heute wird das eher belächelt und nur noch im engen Freundeskreis, der sog. malta, gepflegt.

Daß es nicht zu einer förmlichen Explosion des Calão und einer breiten Übernahme durch die gesamte Bevölkerung kam, liegt im Wesen des Calão selbst begründet. Es ist eben nicht nur die Sprache der Straße, sondern auch der Gosse und des Verbrechermilieus. Hieraus bezieht es seine revolutionäre Kraft. Diese wird natürlich dann besonders wirksam, wenn die äußeren Bedingungen sie dazu förmlich herausfordern. Stagnation und Repression wecken den Widerspruchsgeist, der sich im Slang Luft macht. Es ist so, als wolle man dem System, wenn man ihm denn schon nicht anderweitig beikommen kann, zumindest sprachlich eins auswischen. Daß dies einem erfrischenden Schlammbad gleichkommt, indem sich selbst Intellektuelle und Philosophen gerne suhlen, hat bereits Jean-Paul Sartre für den Argot festgestellt (dem er selbst übrigens wie kein anderer frönte).

Doch mit dem 25. April war auf einmal der Druck weg, weggefegt der Mief und die Bevormundung des Salazar-Regimes. Damit war der Calão eigentlich seiner revolutionären Zielscheibe beraubt und hätte verschwinden können. Doch so einfach und direkt wird Sprache durch politische Entwicklungen nicht beeinflußt. Der Calão lebt wie eh und je und entwickelt sich weiter. Was sich verändert hat, ist ein unkomplizierteres Verhältnis der öffentlichen und veröffentlichten Meinung zum Calão, speziell zum sexuellen Bereich.

Dies sei nur an einem Beispiel illustriert. Das Dicionário de Calão von Albino Lapa aus dem Jahre 1959 führt keinen einzigen der vielen Calão-Begriffe für die männlichen und weiblichen Geschlechtsteile. Selbst das Wort caralho (= Penis) fehlt, das ein gängiges Fluchwort ist, besonders in Nordportugal, und sogar in Deutschland, allerdings in seiner spanischen Form (carajo), in aller Unschuld ständig benutzt wird. Eduardo Nobre hingegen bringt in seinem Buch O Calão. Dicionário de Gíria Portuguesa (1980) gleich eine Abbildung eines nackten Menschenpaares mit Calão-Ausdrücken der verschiedenen Körperteile. Beim weiblichen Geschlechtsorgan bringt er es auf 16 Ausdrücke, beim männlichen sogar auf 24 - natürlich nicht annähernd so viele wie in den von Prof. Kröll (Mainz) in Lusorama veröffentlichten Listen.

Dafür findet sich bei Albino Lapa immerhin schon der Slang-Begriff für eine sexuelle Praxis, deren Kenntnis durch die Lewinsky-Affäre inzwischen bis ins letzte Wohnzimmer getragen wurde (broche). Aber statt einer Erklärung des Begriffes erhält der verduzte Leser eine von moralischer Entrüstung und gleichzeitig Schlüpfrigkeit geprägten Verurteilung des Ganzen: Termo demasiado grosseiro, que designa um requinte de luxúria a que se entregam, de ordinário, os velhos e os impotentes. Somit wäre - laut Albino Lapa - Präsident Clinton ein velho impotente. Alles klar?

Dem portugiesischlernenden Ausländer seien bei der Gelegenheit noch ein paar Tips oder Warnungen auf den Weg gegeben. Natürlich ist der Calão ein ganz wichtiges Kapitel der portugiesischen Sprache, ohne dessen Kenntnis man große Verständnisschwierigkeiten haben kann. Der Besitz eines Calão-Wörterbuchs ist somit unerläßlich und die passive Beherrschung der Materie äußerst hilfreich, sowohl bei der Konversation mit Portugiesen als auch bei der Lektüre. Gewarnt werden muß allerdings vor der aktiven Anwendung von Calão, da dieser bestimmten sozio-linguistischen Gesetzen unterliegt. Es handelt sich nämlich um den Verständigungs-Code innerhalb einer in-group. Und egal wie perfekt man die portugiesische Sprache beherrscht, man ist als Ausländer immer Außenseiter, und so wird eine Einlassung in der Umgangssprache, selbst wenn sie noch so korrekt und passend ist, vielleicht staunend oder anerkennend bemerkt, aber eher als "störend" empfunden.

So erging es mir selbst, als ich als stellvertretender Schulleiter der Deutschen Schule Lissabon einen portugiesischen Schüler in Gegenwart einer älteren portugiesischen Kollegin wegen seines frechen und unverschämten Auftretens zurechtweisen mußte. Der von mir verwendete Ausdruck É preciso ter lata (zu deutsch etwa: "Du hast vielleicht 'ne Stirn!") zeugte zwar Vertrautheit mit der umgangssprachlichen Idiomatik und verfehlte auch nicht seine Wirkung bei dem Schüler, brachte mir aber einen Tadel der mich diskret beiseite nehmenden Kollegin ein, die hierin eine Überschreitung der innerhalb des Calão herrschenden soziologischen Abgrenzungen sah.

Es gibt eben nicht den Calão, sondern je nach Gruppe unterschiedliche Gírias, durch die sich die jeweilige Gruppe gegen andere abgrenzt. So haben die Schüler ihre eigene Sprache (gíria estudantil), mit der sie sich von der Welt der Erwachsenen absetzen. So ist z.B. uma nega eine Arbeit, die man verhauen hat, o urso der Schlaumeier der Klasse, und zu dar manteiga sagen die Hamburger Schüler "schleimen". Es wird als "peinlich" empfunden, wenn ein Erwachsener diese Jungendkultur nicht respektiert, indem er sich sprachlich an die Schüler heranmacht. Ein Beispiel aus unseren Breitengraden wäre das "geil", mit dem manche Erwachsene Nähe zu den "Kids" signalisieren.

Doch es gibt auch bestimmte Erwachsenengruppen, die ihren eigenen Binnenjargon haben. So gibt es eine ausgeprägte Gíria militar unter Soldaten und eine Gíria do Crime mit ihren verschiedenen Unterabteilungen (Gíria da Prostituição, Gíria da Droga etc). Die kleinste in-group ist wohl die der Funkamateure (Banda do cidadão). Bei ihnen heißt Lissabon Lima xangai (wegen der Abkürzung Lx für Lissabon), die Ehefrau heißt cristal und die Tia Vitorina ist das Fernsehen (TV). Man wird abwarten müssen, wie mit dem Rückgang des Funkwesens aufgrund der modernen Telekommunikationsmöglichkeiten dieser Micro-calão sich wird halten können.

Wo man sich weniger vertun kann, ist bei der regionalen Aufteilung des Calão. Sieht man mal von dem Nord-Süd-Gefälle ab, was die Häufigkeit des Gebrauchs obszöner Flüche angeht, so kann man sagen, daß es regional keine großen Unterschiede im Gebrauch des Slang gibt. Lediglich in Porto gibt es einige Regionalismen, so sagt man dort z.B. statt porreiro (toll, "geil") eher castiço. Über den Antlantik dringt allerdings mehr und mehr brasilianischer Calão in Portugal ein, vor allem durch die telenovelas. Statt porreiro/castiço hört man dort eher da pesada und statt gajo cara. Gelegentlich gibt es dann peinliche Verwechslungen, so wenn der Portugiese von bicha (Menschenschlange) spricht. Im brasilianischen Calão bedeutet es jedoch maricas (Schwuler).

Und noch vor etwas ist beim Gebrauch des Calão zu warnen: er unterliegt der Mode. In unserer schnelllebigen Zeit sind bestimmte Begriffe sehr schnell "out" und andere treten an ihre Stelle. Wer einen veralteten Begriff benutzt, riskiert belächelt zu werden. So sprach man in Hamburg früher im Jazzer-Jargon von einem Auftritt als einer "Mucke"; heute heißt dies ein "Gig". Ebenso ist das viel zitierte und strapazierte porreiro nicht mehr "in". Das neue Zauberwort heißt bué.





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Portugal-Post Nr. 6 / 1999