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Madeira zwischen gestern und morgen
Sehr persönliche Impressionen von der atlantischen Insel

Von Jürgen Schaper *

Gegen Abend hatte es etwas geregnet. Nun ist es zwar wieder trocken, aber inzwischen hat sich nach kurzer Dämmerung totale Dunkelheit über die Insel gesenkt. Ich biege in den kleinen, von Palmen umstandenen Nebenweg zu unserem Haus ein, steige die beiden Stufen hinunter und gehe den unregelmäßigen Plattenweg entlang. Immer, wenn ich diese Stelle passiere, denke ich daran, dass ich hier vor etwa 15 Jahren einmal ekelhaft gestürzt bin. Es hatte, wie heute, etwas geregnet und es war stockdunkel. Die Stufen waren zerstört, der Weg steinig und ungepflastert und - es gab kein Licht! Senhor Salazar musste bei seinen Bemühungen, das Land zu erleuchten, hier etwas übersehen haben.

Nun, inzwischen ist Portugal seit über 30 Jahren keine Diktatur mehr und zwei Jahrzehnte Mitglied in der Europäischen Union. Nicht zuletzt mit deren Hilfe hat sich mancherlei gewandelt. Dazu gehört auch der gerade von mir begangene Weg. Er ist jetzt mit schönen Platten gepflastert und auch die Stufen sind längst repariert. Doch das Wichtigste ist das schöne, warme Licht der neuen gusseisernen Laternen, die jetzt sicher den Weg weisen.

Überall ist in den vergangenen Jahren der Fortschritt eingezogen. Wie viele langjährige Inselfreunde beklagen auch wir bisweilen, dass das "Madeira von gestern" kaum noch wieder zu erkennen ist. Selbstverständlich wirkt die grandiose Landschaft in den Bergen auf den ersten Blick unverändert. Schließlich ist es einer vorausschauenden Regierung dieser seit 1975 auto-nomen Region Portugals gelungen, den größten Teil der Insel als Naturpark einzustufen um damit größere Veränderungen zu verhindern. Doch wurden auch hier die durchführenden Straßen seit Anfang der 90er Jahre begradigt, verbreitert und teilweise verlegt. An vielen Stellen wurden die Berge untertunnelt, um deren mühevolles Überqueren auf stark gewundenen Straßen mit ihren vielen zum langsamen Fahren zwingenden Serpentinen zu vermeiden.

Um es vorweg zu nehmen. Das alte Madeira, das Madeira von gestern haben wir nicht kennen gelernt. Weder wurden wir auf Ochsenschlitten durchgerüttelt, noch mussten wir gefahrvolle Dampferverbindungen in Anspruch nehmen, um von Ort zu Ort zu gelangen. Unsere Unkenntnis aus eigenem Erleben erstreckt sich auch auf den beginnenden Individualtourismus um die vorige Jahrhundertwende oder den mit der KdF-Schifffahrt in den 30er Jahren erstmals einsetzenden Massentourismus. Wir entdeckten das atlantische Paradies erst vor knapp 20 Jahren. Kann man dann überhaupt darüber schreiben? Wenn wir diese Frage für uns mutig bejahen, so geschieht das im Hinblick auf die Tatsache, dass wir die Insel, ihre Geschichte und ihre Bewohner seitdem in jeder Richtung erforscht und kennen gelernt haben. Der Zeitraum ist auch lang genug, um die Veränderungen seitdem - positiv oder negativ - zu sehen und beurteilen zu können.

Wie war es denn "damals"? Ich meine nicht die Zeit bis 1964, in der die Insel nur mit dem Schiff oder bei günstigem Wetter mit Flugbooten anzusteuern war. Ich rede vom Beginn der 90er Jahre, in denen das Abenteuer schon mit der Landung auf der einzigen, nach einem Flugunfall 1969 zwar etwas verlängerten, aber immer noch viel zu kurzen Rollbahn begann. Vom böigen Seitenwind geschüttelt, knallte der Pilot das Flugzeug nicht immer ganz waagerecht mit quietschenden Reifen auf die Piste, und der viel zu kurze Bremsvorgang presste die Passagiere in die Gurte.

Nicht weniger aufregend war später der Abflug. War das Flugzeug voll besetzt, konnte es nicht genügend Treibstoff für die ganze Reise - damals noch "Non Stopp" nach Hamburg - mitnehmen. Gerade glücklich in der Luft musste es schon nach wenigen Flugminuten wieder runter, um auf der längeren Bahn der Nachbarinsel Porto Santo zum Tanken zu landen. Bei schlechtem Wetter und unsicherem Flugverkehr verbrachten die Menschen die Wartezeiten auf den Treppen des kleinen Abfertigungsgebäudes sitzend. Seit einigen Jahren verfügt die Insel über einen neuen, modernen Flughafen. Nicht nur erleichtern großzügige Abfertigungs-räume den Aufenthalt. Viel wichtiger ist die neue Startbahn - fast doppelt so lang wie die bisherige - die nun zum Abstellen der wartenden Flugzeuge dient, deren Zahl ja nicht abgenommen hat. Wer die alten Verhältnisse noch kennt, kann die Neuerungen nur begrüßen.

Abfertigung und Einreise erinnerte in jenen Jahren an eine Reise durch die DDR. Man musste den Ausweis vorlegen und ein Beamter verglich das Bild darauf gewissenhaft mit der vor ihm stehenden Person. Später im Quartier oder Hotel musste man den Pass abgeben und bekam ihn erst am nächsten Tag wieder. Europa schien trotz EU noch weit weg.

Die Reise vom Flughafen zum Wohnort konnte bei den schlechten Straßenverhältnissen und dem vielen Verkehr ebenfalls zu einer Geduldsprobe werden. Seit ein paar Jahren hat eine autobahnähnliche Schnellstraße durch lange Tunnel und über gewagte Talbrücken die gewundene alte Küstenstraße vom Flughafen nach Westen ersetzt. Schnell ist Caniço de Baixo, seit vielen Jahren unser Wohnort auf Madeira, aber wenig später auch Funchal, die Hauptstadt der Insel, erreicht.

Überhaupt die Küstenstraße. Früher hieß sie stolz Estrada Nacional. In vielen Windungen führt sie an der Südküste der Insel vom östlichen Caniçal bis zur westlichen Ponta do Pargo (und von dort aus weiter "um die Ecke" an die Nordseite) und ist einmalig schön! Und als Wichtigstes: Sie ist wieder "befahrbar"! Wir erinnern uns gut an die Zeit vor dem Bau der Via Rápida (Schnellstraße). Bis vor 10 Jahren war die E.N. die wichtigste und über lange Strecken die einzige Straßenverbindung zwischen den Küstenorten rund um die Insel. Das bedeutete nicht nur eine endlose, immer höchste Aufmerksamkeit erfordernde Kurverei, ein Fahren Stoßstange an Stoßstange im Abgas von Autobussen und Bau- und Lieferfahrzeugen mit endlosen Staus. Von Erholung und Genuss keine Spur. Mit den Nerven vollkommen fertig, landete man nach Autoausflügen zu Hause. Zum Glück - bis heute - immer unfallfrei.

Heute geht der Durchgangsverkehr über die den Osten mit dem Westen der Insel verbindende Via Rápida vierspurig durch unzählige, teilweise viele Kilometer lange Tunnel, die die Insel wie einen Käse durchlöchern, und über lange, geschwungene Talbrücken. Die alte Küstenstraße dient nur noch dem Anliegerverkehr. Seitdem ist es geradezu ein Genuss, sie mit gelegentlichen Pausen an miradouros (Aussichtspunkten) oder lojas (kleinen Laden-Cafés) zu befahren! Abends nach Hause? Kein Problem: An der nächsten Auffahrt auf die Via Rápida. Erlebter Fortschritt! Und ohne Maut!

Natürlich sind wir nicht zum Bestaunen der üppigen Beleuchtung und Bewundern der Schnellstraßen auf Madeira. Doch ist uns beides hilfreich bei unseren Wanderungen. Hierzu muss ich vorweg bemerken, dass es mir als Asthmatiker seit vielen Jahren nicht mehr möglich ist, Wanderungen bergauf zu machen oder Berge zu erklimmen. Ein wichtiger Grund für unsere Liebe zu dieser Insel sind deshalb die levadas. Das sind Wasserkanäle, die überall in allen Gegenden und in jeder Höhe fast horizontal das Land durchziehen, um das meist auf der Nordseite aus den Bergen austretende Wasser an die trockene Südseite zu transportieren. Mit dem Bau dieser sinnreichen Einrichtungen begann man ziemlich schnell nach Beginn der Besiedelung der Insel zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Damals galt es, Trinkwasser zu beschaffen sowie die Felder in der Nähe Funchals zu bewässern, um den Anbau von Gemüse, Früchten und Zuckerrohr zu ermöglichen. Die erste levada, die levada dos pior-nais, ist heute noch in Betrieb und wird lebhaft bewandert.

Eine zweite Phase im Levadabau gab es von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Der Bevölkerungszuwachs erforderte das Urbarmachen weiterer Anbauflächen und damit das Heranführen von mehr Wasser für die Erweiterung der Landwirtschaft, zu deren Bewirtschaftung mangels größerer Flächen auf der stark zerklüfteten Insel die heute noch typischen Terrassenfelder angelegt wurden. Diese levadas der zweiten Epoche, die schon Längen von 30 bis 50 Kilometern haben, sind auch heute fast alle noch intakt und laden zum Wandern ein. Da Wasser bekanntlich nicht bergauf und in den levadas meist nur träge bergab läuft, geht man auf ihren Rändern oder danebenliegenden Arbeitswegen bequem und ohne Überwindung nennenswerter Höhenunterschiede in beiden Richtungen durch die herrlichsten Landschaften.

Die Wasserläufe folgenden immer auf derselben Höhe der Uferformation und führen abwechselnd mal in der Nähe des Meeres entlang, mal durch den tiefsten Wald oder entlang der schroffsten Täler. Oft geht es an Abgründen von mehreren hundert Metern entlang. Stets hat man ein wechselndes Bild vor Augen. Für Leute mit wenig Luft genau das Richtige. Stellenweise jedoch nichts für Leute, die nicht schwindelfrei sind. Obwohl man schon früher versucht hat, schwierige Stellen mit Zäunen zu versehen, war diesen Bemühungen meist kein dauerhafter Erfolg beschieden. Die meist kümmerlichen und oft zerstörten Sicherungen zwingen den unsicheren Wanderer bisweilen zu vorzeitiger Umkehr. Führte die levada im Winter kein Wasser, so kann man schwierige Stellen auch in der levada passieren.

Etwas Anderes - wenn auch kein direktes Hindernis, so doch eine empfindliche Störung - war (und ist teilweise noch) herumliegender Dreck. Menschen, die an oder in der Nähe der levada wohnen, entsorgten ihre Abfälle einfach, nein nicht in, aber dicht neben der levada in die Natur. Das mag in Zeiten schnell eintretender Verwesung natürlich hergestellter Produkte eine vertretbare Art der Entsorgung gewesen sein, im Zeitalter unverrottbarer Plastiktüten, -flaschen und Stoffe ist es schlicht ekelhaft. Doch hat sich vieles gebessert. Angefangen in den Städten, gibt es seit einigen Jahren jetzt auch auf den Dörfern und in abgelegenen Siedlungen eine regelmäßige Müllabfuhr, und an den zum Abkippen besonders beliebten Stellen stehen Verbotsschilder. Auch wenn in den Ortschaften überall die Müllgefäße der ecopontos zur Benutzung einladen und der Abfall in einer inmitten der Insel versteckt liegenden großen Müllverbrennungsanlage verbrannt wird, bleibt der Umweltschutz auch auf Madeira wohl weiterhin ein Problem.

Irgendwie mussten natürlich auch immer Kühlschränke, Waschmaschinen und Autos am Ende ihrer Lebenszeit entsorgt werden. Aber wohin damit? Ab in die nächste Schlucht hieß viele Jahre lang das Lösungswort. Heute gibt es auch hierfür Möglichkeiten ordnungsgemäßer Entsorgung, und den Arbeitern der Forstämter und der levadasist es zu danken, dass allmählich die älteren Rückstände aus der Natur entfernt werden. Aber es wird in den einzelnen Distrikten immer noch sehr unterschiedlich gehandhabt. So gibt es an einigen levadas leider immer noch Müll und Stellen, vor denen man sich graut, während andere in den Zustand sauberer und sicherer Wanderwege versetzt worden sind, auf denen der Genuss der Natur ungetrübt ist.

Die deutsche Presse berichtete Mitte Februar, dass die Regionalregierung das Problem aufgegriffen hat und vier Millionen Euro ausgeben will, um noch im Frühjahr 2007 18 Wege von zunächst 124 Kilometer Länge zu sanieren. Dazu sollen mehrere Brücken und Tunnel restauriert und gefährliche Stellen mit Gittern gesichert werden. Na bitte, es tut sich doch etwas!

Als man in der Salazarära begann, Portugal durch eine Verstärkung der eigenen nationalen Wirtschaft von Einfuhren unabhängiger zu machen, wurde in einer Arbeitsteilung Madeira zum Anbauland für Gemüse und Früchte, meist Bananen und Zitrusfrüchte. Dazu mussten weitere Flächen im sonnigen und milden aber wasserarmen Süden für den landwirtschaftlichen Anbau nutzbar gemacht werden. In einem gewaltigen Programm wurden die bisherigen Anbauflächen vervielfacht. Hierzu brauchte man Wasser, viel Wasser, wie man sich denken kann. Man besann sich der alten Methode und baute zwischen 1939 und 1969 die großen levadas novas, die neuen Levadas. Das wurden nun mächtige Kanäle aus Beton bis zu 2 Metern Breite und von teilweise über 100 Kilometern Länge! Die levada do norte und die levada dos tornos mit ihren 100000 Ausflüssen wurden die längsten und wasserreichsten. Sie wurden aber nicht allein zum Transport der benötigten ungeheuren Wassermassen für die Landwirtschaft benutzt, sondern auch zur Stromerzeugung, damit es auf der Insel hell werde. In acht Wasserkraftwerken wurde zunächst die Energie der Wasserkraft genutzt, bevor das Wasser in weiteren levadas dahin floss, wo es auf den Plantagen und Feldern seinen Endzweck erfüllte. Obwohl für das Wasser auch Tunnel verschiedener Länge - einige davon sind begehbar, andere nicht - gebaut werden mussten, wurden mit den neuen levadas viele neue, fantastische Wanderwege geschaffen. Es heißt, dass es auf der Insel insgesamt über 2.000 Kilometer bewanderbare levadas gibt. In fast zwei Jahrzehnten haben wir aber bisher noch längst nicht alle entdeckt und begangen.

Segen oder Fluch des Fortschritts? Der Fortschritt, bisher von mir gepriesen, hat natürlich auch seine Kehrseiten. Er zerstört auch das, was man sucht. Das Leben der einfachen Menschen hat sich wohl am meisten verändert. Jedes Jahr verschwinden mehr der einst unzähligen primitiven erdgeschossigen Katen, in denen mehrere Generationen auf engstem Raum leben mussten. Und wie sie darin leben mussten? Gut, sie alle hatten Licht und mussten das Wasser meistens nicht mehr von einem entfernten Hahn an der Straße zapfen. Aber wie wohnten sie in den feuchten Häuschen? Es gab weder Bad noch Dusche für die erschöpft und verdreckt von der schweren Landarbeit auf den Terrassenfeldern heimkehrenden Menschen. Schimmel an allen Wänden, aber auch an den vielen kalten und feuchten Tagen keine Heizung. Wir sahen vier bis sechs artige Kinder, die nachts zu mehreren in einem Bett schliefen, am einzigen Tisch neben der Kochstelle, von der caldo verde (Kohlsuppe) oder peixe espada (Degenfisch) ihre Schwaden verbreiteten, diszipliniert ihre Schularbeiten machen. Wäsche wurde in geriffelten Trögen aus Stein oder Beton im Freien gewaschen. Schön, wenn eine nahe levada wenigstens für "fließendes" Wasser sorgte! Das alles gibt es vereinzelt immer noch, aber mit stark abnehmender Tendenz. Kann man es den Leuten verübeln, wenn sie in eine Neubauwohnung ziehen wollen?

Dem aufmerksamen Wanderer bietet sich oft immer noch dieses Bild: Vorm Haus neben der uralten hölzernen Weinpresse versucht der Großvater, der seit seiner Arbeit bei Krupp ein bisschen deutsch spricht, ein Gespräch und bietet voller Stolz (nicht nur) ein Gläschen seines selbst erzeugten sauren Weines an. Dabei ist es für ihn selbstverständlich, jegliche Bezahlung dafür abzulehnen. Man muss also ein paar Escudos oder jetzt Euros der Frau heimlich zustecken oder irgendwo auffindbar "vergessen". Auch das ist immer noch eine Welt der Gegenwart, wenn man inzwischen schon gut die Augen aufhalten muss, um dergleichen zu erleben.

Noch in diesem Jahr landen wir eher zufällig in einer - aus unserer Sicht - total verdreckten Bude, als wir wegen unser kleinen Enkelin einem Mann folgen, der seine Ziegen füttern will. Er bittet uns auf sein mit Gerümpel voll gestelltes kleines "Anwesen". Mit dem Mund und einem Schlauch saugt er Wein aus einem uralten Holzfass, spült ein paar Gläser in der Regentonne und füllt sie. Wir sehen uns an. Denken an Sauberkeit, Keimfreiheit und Hygiene. Begriffe die hier unbekannt scheinen. So trinken wir mehrere Gläser, und am Ende füllt er uns - ebenfalls nach Spülung in der Regentonne - eine herumliegende Flasche voll ab. "Quanto custa?" Doch mit aller Kraft wehrt er meinen Wunsch nach Bezahlung ab. Es hat ihm einfach Spaß gemacht - und es ist die sprichwörtliche Gastfreundlichkeit und Großzügigkeit der Menschen hier. Mit einiger Mühe gelingt es mir, ihm beim Weggang einen Fünfeuroschein in seine Hosentasche zu zaubern, als er gerade beide Hände zum Ziegenfüttern benötigt und sich nicht wehren kann. Hundert Meter daneben beginnt bereits eine Neubausiedlung sich gefräßig in die bescheidenen Kohl- und Zwiebelfeldchen auszubreiten. Ob dieser einfache Mann, seine Bude, sein Wein und sein Ziegenstall wohl im nächsten Jahr noch da sein werden? Sicher ist, dass die umgesiedelten Menschen mit der Veränderung ihrer Lebensumstände auch ihre alte Ursprünglichkeit, ihre Menschlichkeit verlieren werden.

Wer mit aufnahmefähigen Sinnen das Land durchwandert, kann so etwas noch an vielen Stellen erleben. Menschen, die einfach leben, schwere Arbeit verrichten, dennoch fröhlich und zufrieden sind, überaus freundlich reagieren, wenn man stehen bleibt, sie grüßt oder anspricht, und ohne Erwartung von Entgelt Wein oder Früchte anbieten. Der eilige Wanderer, der, laut von seiner letzten Mallorcareise schwadronierend, vorbeihastet, oder erst recht der Autotourist hat keinen Blick für seine Umgebung, ihre Schön- und Besonderheiten. Vielleicht sehen sie nicht einmal die in den Eingängen der Hütten sitzenden, ihnen neugierig zusehenden Stickerinnen. Wir grüßen sie, und sie nicken uns freundlich zu. Auch dies ist ein Gewerbe, das von billigen Chinaimporten, die man auf dem Markt in Funchal für wenig Geld erwerben kann, schleichend ruiniert wird.

So verschwinden jedes Jahr mehr der alten, solide aus Naturstein (Basalt) gebauten weißen Katen mit ihren Strohdächern oder roten Dachpfannen. Stattdessen schießen überall neue Siedlungen für die Einheimischen mit mehrgeschossigen Mietskasernen aus luftgetrockneten Leichtbausteinen wie Pilze aus dem Boden. Dem Südteil der Insel drohte schon seit langem die Zersiedelung. Jetzt wird sie rasch vollendet. Nahtlos gehen die nebeneinander liegenden Gemeinden ineinander über. Aber die Menschen bekommen luftige und gesunde Wohnräume. Die Generationen werden nicht mehr gezwungen, auf engstem Raum konfliktträchtig miteinander mehr zu hausen als zu wohnen. Wo liegen die Grenzen zwischen Segen und Fluch des Fortschritts?

Was will der Tourist? In den auch im Winter meist gut belegten Hotels sitzen die Leute auf windgeschützten Balkons und Terrassen oder an den Schwimmbecken und lassen sich die Sonne - wenn sie denn scheint, und das ist in Madeira im Winter durchaus nicht immer sicher - auf den Pelz brennen. Im geballten (und aus unserer Sicht scheußlichen) Hotelviertel im Westen der Hauptstadt drängen sich bei Tag und bei Nacht die Leute auf den Straßen. Dort gibt es Läden und jede Art "Shopping" und nicht nur aus den unzähligen Bars dringt unerträglich laute Musik. Natürlich keine dezente portugiesische, sondern der amerikanische Allerweltskrach, dem man da, wo viele Menschen sind, überall ausgesetzt ist. Wir fragen uns jedes Mal, wenn wir aus irgendeinem Grund gezwungen sind, diese Gegend zu durchfahren, was die Menschen umtreibt, sich solchen zweifelhaften "Vergnügungen" auszusetzen. Sind sie so flach oder sind wir hemmungslos altmodisch?

Natürlich sieht man auch Menschen in Wanderkleidung etwas hilflos die Estrada Monumental auf und ab stapfen. Was sollten sie sonst tun, wo sollten sie auch hin? In die Berge? Wer zeigt denjenigen, deren Instinkte von unserer "Kultur" abgestumpft sind, - außer vielleicht auf organisierten Busfahrten - wo es schön ist, wo sie die Zeit und ihr Leben in einer grandiosen Natur und Stille wirklich genießen können? Wollen sie das überhaupt? Wir fahren Straßen im Hochland, auf denen uns in einer Stunde ein einziger PKW entgegenkommt. Das gewaltige Landesinnere der kleinen Insel mit ihren hohen Bergen, Wäldern, Wasserfällen und dem alles durchziehenden System der levadas ist schön - und unverändert. Aber nur wenige zieht es offenbar dorthin. Oft sind es ältere Engländer, kenntlich meist an vollkommen ungeeignetem Schuhzeug. Wenn uns von einer Dame in lehmverkrusteten Schuhen mit hohen Absätzen oder von einem Herrn in durchgenässten schwarzen Stadtschuhen ein fröhliches "Good Morning" entgegenschallt, dann sind es immer Leute von einer anderen Insel. Aber sie sind unterwegs. Deutsche trifft man auch. Korrekt mit Bergwanderstiefeln, Rucksack und Stöcken bewaffnet. Oft ergeben sich dann nette Gespräche und manchmal geht man zusammen weiter. Aber es sind doch immer Ausnahmen. Viele Menschen sind es nicht, die man trifft.

Den Leser, der mir bis hier gefolgt ist, bitte ich um Nachsicht für meine sehr persönlichen Betrachtungen. Alles andere kann er besser im Reiseführer nachlesen - oder selbst hinfliegen.


* Jürgen Schaper besucht mit seiner Frau Marlies regelmäßig seit knapp 20 Jahren Madeira, das ihm so etwas wie zur zweiten Heimat geworden ist.
In seinem Artikel über den Fado auf Madeira (Portugal-Post 33) zeigte er bereits seine intime Kenntnis der Insel und ihrer Bewohner. Während Jürgen Schaper seine Impressionen mit dem Wort festhält, setzt die Buchillustratorin Marlies Schaper dazu Zeichenfeder und Tusche ein.






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Portugal-Post Nr. 38 / 2007


Wäscherin auf Madeira






Madeirenser Häuschen






Stickerin