Stell dir vor, es sind Wahlen ...
Von Peter Koj
Stell dir vor, es sind Wahlen, und keiner geht hin. Utopisch? Nun, nach den letzten Kommunal- und
Landtagswahlen in verschiedenen deutschen Bundesländern erscheint diese Annahme nicht mehr so abwegig.
Der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago macht in seinem letzten Roman Ensaio sobre a lucidez
(2004) mit dieser Utopie ernst und lässt eine ganze Stadt, die zudem die Landeshauptstadt ist,
von den Urnen fernbleiben. Die Regierenden des offensichtlich fiktiv gemeinten Staates (auf Seite 107
der deutschen Ausgabe wird jedoch deutlich, dass es um Portugal geht) sind irritiert und lassen die Wahl
wiederholen. Als auch diese nicht das gewünschte Ergebnis bringt, greifen die Verantwortlichen,
allen voran der Innenminister, zu repressiven Maßnahmen.
Die Regierung verlässt die Hauptstadt und setzt sie unter Quarantäne. Gleichzeitig werden
"Schuldige" für das widerborstige Verhalten der Wählerschaft gesucht, die ja im Grunde nichts
anderes getan hat, als von ihren bürgerlichen Rechten Gebrauch zu machen. Aufgrund einer Denunziation
gerät die Frau eines Augenarztes in das Visier der Geheimpolizei, die wir schon aus Saramagos
Roman Die Stadt der Blinden (Ensaio sobre a cegueira) kennen. Diese im wahrsten Sinne des
Wortes Lichtgestalt des Romans aus dem Jahre 1995 nimmt nun, neun Jahre später, ein trauriges Ende,
das in seiner bitteren Konsequenz Saramagos ganze Vorbehalte gegen die regierende Kaste Portugals verkörpert.
Man hat dem Roman Saramagos Naivität und künstlerische Schwäche vorgeworfen.
Für mich ist er eher ein warnendes Menetekel des Humanisten und Politikers Saramago,
der lange Jahre als Abgeordneter der PC im Lissabonner Stadtparlament tätig war.
Er zeichnet hier ein erschreckendes Bild von der Aushöhlung der Demokratie, die es
skrupellosen und machthungrigen Dirigenten erlaubt, ihr finsteres Spiel zu treiben.
Insofern ist dieser Roman die bittere Kehrseite des Romans aus dem Jahre 1995.
In Die Stadt der Sehenden finden wir ähnlich wie in Die Stadt der Blinden
denselben Erzählstil mit denselben Eigenheiten, die wir an Saramago so lieben ... oder auch nicht.
Wieder spricht zu uns ein freundlicher älterer Herr voller Lebenserfahrung,
der sich aber nie aufdrängt, seine eigenen Informationen in Frage stellt
und so ein kunstvolles Spiel mit der eigenen Unkenntnis treibt.
Auch die portugiesische Sprache und ihre vielfältigen Möglichkeiten,
einen bestimmten Sachverhalt wiederzugeben, werden immer wieder spielerisch reflektiert.
Hier liegt auch ein Problem der Übersetzung, die ansonsten von Marianne Gareis glänzend
bewältigt wird. Doch was soll der deutsche Leser mit der wörtlichen Übersetzung
sprichwörtlicher Redensarten wie pão pão queijo queijo (S. 71),
dar tempo ao tempo (S. 196) oder ensinar o padre-nosso ao vigário (S. 233) anfangen?
Hier hätte ich eine entsprechende deutsche Redensart gewählt, selbst wenn sie nicht so
ausdrucksstark wie die portugiesische ist.
Für alle Leser, welche Die Stadt der Blinden gelesen haben, das ich neben
Saramagos frühem Meisterwerk Das Memorial (1982) für seinen beeindruckendsten
Roman halte, ist diese Fortsetzung des Romans von 1995 ein absolutes Muss.
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Portugal-Post Nr. 36 / 2006
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José Saramago
Die Stadt der Sehenden
Übers. von Marianne Gareis.
Rowohlt 2006. EUR 22,90
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