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Die Glasbläser von Amora - Eine vergessene deutsche Kolonie "na outra banda"1
Versuch einer Rekonstruktion 1890 - 1930

Von Gerhard Schickert *

Amora ist heute ein eher unbedeutender kleiner Fischerort, etwa 15 km gegenüber Lissabon am unteren Teil des mar da palha gelegen. Er wurde der größeren Industriestadt Seixal eingemeindet. Hier eine zeitgenössische Karte zur Orientierung:


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Beginnen wir mit dem Stoßseufzer eines portugiesischen Unternehmers 1888: "Somos um país vinhateiro mas não temos garrafas - Wir sind ein weinerzeugendes Land, aber wir haben keine Flaschen!" In der Tat: Die Winzer hingen derzeit vollständig vom Flaschenimport ab. Um 1775 waren es böhmische Glas-Faktoreien, die sich auf der gesamten iberischen Halbinsel etabliert hatten und die Weinindustrie versorgten - vorwiegend das Portweingebiet, wo hochwertiger Tropfen abgefüllt wurde. In- und Ausland wurde vorwiegend mit Fassware versorgt, mit allen Risiken des Verpanschens und damit der Qualitätsminderung. 1870 wurden 14 Millionen Literflaschen und 1000.000 Korbflaschen, vorwiegend aus Deutschland, importiert. "500.000 Reis kostet uns das jedes Jahr", so geht der Stoßseufzer weiter. Englische und portugiesische Unternehmer witterten Profitchancen. Am 22. November 1888 gründeten die Brüder James und William Gilman zusammen mit Justino Guedes und José L. da Silva Gomes in Amora die Empreza da Fábrica de Vidros nas Lobatas. Englische Öfen und Maschinen wurden eingeführt, englische Facharbeiter folgten, und im September des folgenden Jahres nahm die erste Glasfabrik des Landes ihre Produktion auf.

Aber es lief nicht gut. Die Öfen versagten, Kosten der Kohlefeuerung liefen aus dem Ruder, die Produktionsziele wurden nicht erreicht. Die englischen Arbeiter streikten, wohl wegen manchester-ähnlichen Lohn- und Arbeitsbedingungen. Mitte 1890 kam es zum éclat: keine Einigung zwischen englischen und portugiesischen Inhabern, massive Ausschreitungen, Ausweisung der englischen Arbeiter, Stilllegung der Fabrik. Erstaunlich schnell, nämlich zehn Monate später, bildete ein italo-portugiesisehes Konsortium eine Auffanggesellschaft. Mit Einschusskapital der Brüder Centeno und von David Corazzi entstand am selben Ort die Companhia da Fábrica de Vidros na Amora. Technologie des deutschen Reiches erhält den Zuschlag. Siemens & Halske liefern Hoch- und Schmelzöfen - und am 2. Juli 1890 treffen via Hamburg aus allen deutschen Kleinstaaten 30 Glasbläser und Gehilfen mit ihren Familien in Amora ein. Zwei (!) Tage später nimmt die neue Fabrik ihre Tätigkeit auf. Mit etwa 160 Personen entsteht, neben Lissabon und Porto, die dritt grö?te deutsche Kolonie in Portugal.

Von nun an werden die portugiesischen Quellen eher dürftig. Aber über das Wohl und Wehe dieser neuen deutschen Siedler informieren nun andere, allen voran die Pfarrer der deutschen evangelischen Kirchengemeinde zu Lissabon (DEKL). Aus dieser Quelle und zahlreichen anderen (vgl. Quellen- und Literaturverzeichnis im Anhang) wurden Informationen zusammengetragen, die in den folgenden Abschnitten dargelegt werden sollen. Der besseren Lesbarkeit halber wird auf Fußnoten verzichtet (Zahlen in Klammern geben die Quelle an).

1. Woher kamen sie?
Ein erstaunlich ergiebiges registo de estrangeiros radicados no Seixal 1885-1946 (11) wurde durchgearbeitet. Aus den dort registrierten Heimatorten der Zugezogenen lässt sich das geografische Spektrum rekonstruieren. Bei der Auswahl war man offenbar rigoros vorgegangen, denn die Karteikarten verzeichnen mehrheitlich als Beruf vidreiro qualificado, also Glasbläser-Fachleute. Sie kamen, nach Häufigkeit geordnet, aus den folgenden Kleinstaaten des 1871 gegründeten deutschen Reiches: Böhmen - Schlesien - Thüringen - Württemberg - Bayern - Hamburg - Sachsen - Hessen-Nassau - Hannover - Preußen. Tirol und Wladiwostok bilden die räumlichen Ausnahmen.

2. Wie wohnten, lebten und arbeiteten sie?
Das Management, so würde man heute sagen, der Companhia da Fábrica de Vidros na Amora hatte gut vorgesorgt. Zeitgleich mit den Neu- und Erweiterungsbauten auf dem Fabrikareal (60.000 qm.) wurde 1891 ein ganzer Straßenzug fertig, die noch heute bestehende correnteza dos alemães (vgl. Foto von 1999). Einfache, sauber ausgeführte eingeschossige Häuser (mit jeweils vier Zimmern, Küche und "Plumsklo") für Facharbeiter wechselten mit recht geräumigen zweistöckigen Bauten für Vorgesetzte ab. Insgesamt - noch heute erhalten, im Gegensatz zur gesprengten oder verfallenen Fabrik - 42 Häuschen und sechs Häuser, in denen sich das Leben dieser deutschen Glasbläserkolonie abspielte. Aber wie mögen sich die Tagesabläufe zwischen 1890 und ca. 1920 abgespielt haben? Spärliche, aber durchaus informative Streiflichter sind aus portugiesischen und deutschen Quellen erhalten (1, 4, 7, 9).

Die correnteza lag unmittelbar neben dem Fabrikgelinde; der Weg zur Arbeit war also kurz. Um 6:30 Uhr begann die Arbeit, in Winter eine Stunde später. Die Arbeitsbedingungen waren hart: 51 Wochenstunden an den Siemens-Schmelzöfen und - sicherlich die schwerste Tätigkeit - 8,5 Stunden Arbeit mit der Blaspfeife. Denn mundgeblasen wurde in Amora noch bis 1902! Ein zeitgenössischer Chronist hielt fest: "Die deutschen Arbeiter erhielten pro Hundert geblasene Flaschen drei Reichsmark, d.h. mehr als das Doppelte, was man ihnen in ihrer Heimat zahlte" (7). Verschwiegen wurde allerdings, um welche Flaschen es sich handelte. Denn in Amora wurden 18 verschiedene Flaschentypen geblasen, von der 0,5 Ltr.-Flasche über ausgefallene Formen für Nobelweine, bis hin zum noch heute bekannten 5 Ltr.-garrafão, der dann korbumflochten wurde. Also eine sehr beachtliche Produktpalette, würde man heute sagen. Rechnet man die für 1892 ausgewiesene Jahresproduktion von 2.054.040 Flaschen aller Größen auf die damalige Glasbläser-Gemeinschaft zurück, so hat jeder Facharbeiter etwa 240 bis 260 Flaschen in seiner Tagesschicht geschafft. Eine heute kaum vorstellbare Leistung! Der Autor dieses Beitrags hat sich in seiner Wahlheimat, im Glas-Städtchen Rattenberg am Inn in Tirol selbst einmal als Glasbläser versucht. Zugegeben, er ist Raucher, aber getestet hat er drei Flaschen in einer halben Stunde erblasen und geformt... Zurück. Die hierdurch verursachten maleitas laborais, die. ein Werksarzt lakonisch im Geschäftsbericht 1893 festhält durften wohl Lungenemphyseme, Fibrosen und Silikosen gewesen sein. Also tout court: Eine Schufterei, wenngleich auch vergleichsweise gut bezahlt.

Mittagspause. Oswald Schaarschmidt, Heinrich Flegel, Anton Kreuzer oder Eduard Schölzel (fast alle Namen der Glasbläser konnten ermittelt werden) sind wohl den kurzen Weg von den Werkshallen nach Hause marschiert. Denn von einer Werkskantine ist nirgends die Rede. Und daheim wurde ihnen dann wohl von Muttern, die durchschnittlich vier Kinder zu versorgen hatte, ein eher kärgliches Mittagsmahl aufgetischt. Bacalhau ou sardinhas assadas versus, Königsberger Klopse oder Rippchen mit Kraut, das ist die Frage, die wir hier nicht klären können. So. Nach einer Stunde Pause hatte er wieder an seinem Arbeitsplatz zu sein. Seine Frau und vier plärrende Gören wollten derweil versorgt sein. Aber wie?

Hier tritt die deutsche evangelische Kirche zu Lissabon auf den Plan. Kinder brauchen eine Schule. Dies stellte Pfarrer Boit ( im DEKL-Amt von 1893 bis 1902) sehr schnell fest (4,5). Nach massiver Intervention der DEKL bei der Betriebsverwaltung der Glasfabrik wird am Ende der correnteza ein geräumiges, dreigeschossiges Gebäude fertiggestellt. Der nach Amora delegierte "Hülfsprediger" Friedrich Hünemörder (im Kirchenbuch III der DEKL und auch in der Festschrift von Pfr. Hermann Garlipp obstinat als "Hühnermörder" bezeichnet) beschreibt sein neues Domizil: "Zu ebener Erde umfasste es den Schulraum, im ersten Stock war meine aus fünf kleinen Zimmern bestehende Dienstwohnung nebst Küche. Die Schule diente selbstverständlich auch als Kirche ..." (6).

Diese Schule war bitter nötig. "Schulkenntnisse waren nicht vorhanden, bis zu 13 Jahren hinauf"" erinnert sich Hünemörder. Und er berichtet über Abenteuerliches, seinen Vorgänger betreffend. 1891 erschien in Amora bettelnd ein weitgereister Landstreicher, von Beruf Buchbinder, der sich über "die Balkanhalbinsel nach Kleinasien und bis nach Persien, von dort über .... Gibraltar, Südspanien, Portugal gewandert" (6) als Lehrer vorstellte und angestellt wurde. Zwei Jahre soll er seine Sache auch recht gut gemacht haben, "bis das alte Laster der Trunksucht wieder zum Durchbruch kam und er am nächsten Morgen buchstäblich in der Gosse aufgefunden wurde" (6). Also war wieder die DEKL gefordert. Und sie machte ihre Sache gut. 1906 steht im Handbuch des Deutschtums im Auslande - nebst einem Adressbuch der deutschen Auslandsschulen (5): "Portugal. Amora bei Seixal (ca. 2000 Einw., 37 Deutsche). Deutsche Schule (Escola allemão - sic! -). Lehrer: Pastor der evang. Gemeinde Johannes Hammer. Dreistufige Volksschule. 18 Knaben, 18 Mädchen, alles Deutsche (18 evg., 18 kath.). Unterrichtssprache Deutsch." Sie wurde später vierstufig, hatte vor Ausbruch des 1. Weltkrieges bis zu 68 Kinder und wurde, immer als rein deutschprachige Schule, stets von einem der evangelischen Hilfsprediger geführt.

Wie gestalteten die Glasbläser nun ihre Freizeit? Hier sei ein kurzer Einschub aus dem Jahr 1999 erlaubt. Bei meinem ersten Besuch in Amora suchte und fand ich einen wertvollen Informanten, einen indirekten Zeitzeugen. Am Hafen flickte ein älterer Mann Fischernetze. Ich sprach ihn an und erklärte mein Anliegen. Er strahlte, legte die Garnhaspel zur Seite und stellte sich vor: "Crispim Maria Henriques, 78 Jahre, dritte Grundschulklasse. War sieben Jahre als Maurer in Aachen, hab' aber mein Deutsch wieder verlernt. Ich stamme aus Amora; mein Vater war achegador (also Material-Zuträger) bei den vidreiros alemães. Komm' mit, kann Dir viel zeigen."
In der Tat. Crispim war mein Glückstreffer, der Mann war "ein Fass". Wir stiefelten kreuz und quer über die Trümmerfelder der einstigen Glashütte und Crispim erzählte launig über aqueles alemães. Ihre Arbeitsdisziplin, ihre politischen Umtriebe, ihre Sangeslust, die beiden Blaskapellen - ihre memorable Trinkfestigkeit und über ihr Auseinandergehen nach dem ersten Weltkrieg. Vieles, was er mir berichtete, konnte ich anhand portugiesischer und deutscher Quellen nachvollziehen und bestätigt finden.

Aber nun wieder zurück in die Gründerjahre. 1895 werden deutsche Glasbläser Mitglieder der Sociedade Filarmónica Operária Amorense, die noch heute existiert. Hier gründen sie die banda dos prussianos und die banda dos saxões. Auch mit Sängergruppen werden sie wohl "tonangebend" gewesen sein. Um 1900 ziehen sie, zusammen mit Engländern der Korkfabrik Mundet, in ein gemeinsames Vereinshaus um (vgl. Foto), das noch als Ruine steht. Was dort musikalisch vor sich ging wissen wir nicht, aber Glasbläser mit (ursprünglich) guten Lungen werden wohl so einiges geboten haben.

Über ihre "memorable Trinkfestigkeit" ist leider ziemlich viel dokumentiert. So stellte Hünemörder fest: "Leider war die Trunksucht unter den Glasbläsern Berufslaster. Wären sie doch bei dem nicht so schädlichen Wein als Getränk geblieben! Der Schnaps hat manch einem sittlich und wirtschaftlich das Genick gebrochen". (6). Der Abteilungsleiter für Volkswohl in Seixal teilte seinem Vorgesetzten am 23. August 1890 schriftlich mit, "dass Amora rigoros überwacht werden soll, die Tavernen zu festgelegten Zeiten zu schließen haben, um zu vermeiden, dass die Ausländer der hiesigen Fabriken die ganze Nacht durch spielen, singen und sich betrinken" (8). Diese Zechbrüder waren nicht nur ein Problem in Amora. Auch in Lissabon wurden zwischen 1870 und 1900 ähnlich unliebsame Vorkommnisse aus Jansens Bierhalle in der rua do Alecrim (heute Cervejaria alemã) gemeldet und polizeilich geahndet.

Politisch motivierte deutsche Zuwanderer in Amora (Hünemörder: "Eifrigste Sozialdemokraten!") gerieten mit ihren Vorstellungen vom Arbeitskampf in ernste Schwierigkeiten mit der Obrigkeit der ausgehenden Monarchie. Ein Polizeiprotokoll aus Amora vom 9.10.1890: "... wird hiermit Anklage gegen Johann Michalsky, deutscher Staatsangehöriger, Glasbläser, wohnhaft in Amora, erhoben. Er hat ... Unordnung gestiftet, sich der Obrigkeit verweigert, sich zum Leiter des Aufstandes der Fabrik ernannt, Waffen ausgegeben und versucht, Vorgesetzte anzugreifen" (7). Michalsky, das konnte ich nachvollziehen, war später Familienvater und wohl gläubiger Protestant. Der umtriebige Hamburger hatte allerdings sehr viel gegen willkürliches Festsetzen von Arbeitszeiten und -löhnen (7,8,9). Er ging - erstaunlich für die damalige Zeit - straffrei aus.

3. Welche religiösen Bindungen hatten sie?
"Als Pfarrer Bindseil im September 1891 zum ersten Male nach Amora kam, zählte diese deutsche Kolonie bereits 120 Seelen. Sollten diese heute dem Deutschtum erhalten bleiben, so musste für die kirchliche Versorgung derselben ... Sorge getragen werden." (4) Aus verschiedenen Aufzeichnungen geht hervor, dass die Glasbläser zur Hälfte evangelisch und katholisch waren. Den wiederholten Aufforderungen der Pfarrer, doch die Gottesdienste in Lissabon zu besuchen, leistete niemand Folge. Kein Wunder: Der "Weg von Amora in die Hauptstadt war beschwerlich. Um die Jahrhundertwende war die einzige Verbindung das Segel- oder Ruderboot. Die trägen Lastensegler (saveiros) benötigten zur Überquerung des mar da palha je nach Wind- und Strömungsverhältnissen bis zu fünf Stunden. Die Überfahrt kostete 300 Reis - viel Geld für kleine Leute. Also musste in Amora selbst eine Pfarrstelle geschaffen werden. Bindseils Nachfolger, Pfr. Friedrich Boit, bekam nach zähen Verhandlungen mit dem Auswärtigen Amt, dem evangelischen Oberkirchenrat und dem Gustav-Adolf-Verein die notwendigen Mittel.

1894 fand in Amora der erste ökumenische Gottesdienst statt. Im Kirchenbuch III der DEKL sind unter dem 11.3.1894 zehn Taufen verzeichnet ("alle evang., alles eheliche Geb."). Bezeichnend für die religiöse Einstellung der Eltern ist das Alter der Täuflinge: Sie waren zwischen 4 und 15 Jahre alt... Ähnliche "Gesamttaufen" fanden 1895 statt, 14 vom "Hülfsprediger Hühnermörder" (so immer noch im Kirchenbuch verzeichnet), 18 von Pfr. Boit. Man könnte sagen, dass erheblicher kirchlicher Nachholbedarf bestand. Bis 1899 geben die Unterlagen der DEKL (4,6,9) Auskunft über das Gemeindeleben der Glasbläser in Amora. Über Weihnachtsfeiern, gut besuchte Ostergottesdienste, über drei Bestattungen auf dem deutschen Friedhof in Amora. Eingetragene Todesursachen: Thysis, Lungenschwäche, Verkommnis. Danach reißt jegliche Information aus DEKL-Unterlagen ab. Die Vermutung liegt nahe, dass die Hilfsprediger in Amora eigene Register, vielleicht sogar ein Kirchenbuch, geführt haben. Nur ist bisher nichts gefunden worden; es muss also bei der Vermutung bleiben. Ebenfalls nicht gefunden wurde der damalige deutsche Friedhof der Glasbläserkolonie. Es gab ihn, er ist durch ein Foto (ca. 1934 - 36 aufgenommen von Pfr. Gennrich) dokumentiert. (vgl. Foto). Auf dem nüchternen cemitério municipal meinte ein mürrischer Friedhofswärter, "aqui não há nada dos alemães - hier gibt's nichts von Deutschen." Auch Lage- und Fabrikpläne verzeichnen keinen Friedhof. Die Suche in den Schutthalden der ehemaligen Fabrik erbrachte nur Ziegelberge, aber keine Grabsteine. Ein trauriges Fazit für mich, der sich für deutsche Friedhöfe in Portugal engagiert. Wie so Vieles in Portugal, dürfte auch dieses deutsche Kulturgut der schrankenlosen Zuzementierung des Landes zum Opfer gefallen und überbaut worden sein...

4. Was ist aus den Deutschen und aus Amora geworden?
Die Größe und die Entwicklung der deutschen Glasbläserkolonie folgte der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung im Raum Amora. Durch Streiks, Produktionseinstellungen, Wiederbelebung und Betriebserweiterungen schwankte ihre Zahl von 1902 bis 1916 zwischen 150 und über 300 "Gemeindemitgliedern" (4). 1904 sollen es, lt. Garlipp "fast 300" gewesen sein. Hilfsprediger und Kandidat Johannes Hammer (in Amora von 1904-1907) dürfte gut beschäftigt gewesen sein.
Der entscheidende Einschnitt kam 1916. Am 9. März erklärt Deutschland Portugal den Krieg. Portugal weist umgehend alle deutschen Staatsbürger aus und konfisziert deren Eigentum. Lakonische Eintragung im Archiv Seixal: Sept. 1916. "Os operários e técnicos alemães da Amora são expulsos e so seus bens confiscados devido à Grande Guerra". (7). Zahlreiche Glasbläser flüchten nach Spanien. Verbürgt sind die Gebrüder Burding in Madrid (12), etwa weitere 35 Familien flohen nach Barcelona, Malaga, Alicante und Vigo. Zwei namensgleiche Deutsche wurden als Internierte im Konzentrationslager (depósito de concentrados alemães) auf der Insel Terceira/Azoren registriert.

Wie viele Portugaldeutsche, so kehrten auch zwischen 1920 und 1922 Glasbläserfamilien aus Spanien nach Portugal zurück. In Amora lebten bis 1930 noch etwa 140 Deutsche (10). Über ihren Lebens- und Berufsweg sind bisher keine weiteren Untersuchungen angestellt worden. Bis auf sehr wenige deutsche (oder eingedeutschte) Namen im Telefonbuch von Seixal verlieren sich ihre Spuren.
Allerdings sollte für zukünftige Recherchen festgehalten werden: Der heutige Stadtteil Amora will einen campo de arqueologia industrial einrichten. Eine erste Studie über die Glas-, Kork- und Konservenindustrie ist in Bearbeitung (14). Es bleibt zu wünschen, dass hier der Beitrag der deutschen Einwanderer gebührend berücksichtigt wird.

Und Amora? Das einst prosperierende Industriegebiet na outra banda? Der Ort hat seine Identität verloren. Die Kaimauern, an denen einst Kohle-, Pottasche- und Quarzsandsegler entluden und ihre Flaschenfracht aufnahmen, sind verfallen. Wenige flachlaufende Fischerkähne dümpeln in der versandeten Bucht im verschmutztem Wasser. Weit hinten am Horizont rauscht der Katamaran von Seixal nach Lissabon vorbei. Er ist heute in 40 Minuten "drüben". Das alles stimmt traurig. Und leider nicht nur dieses. Anfang Oktober 2005 war ich zum bisher letzten Mal in Amora. Am Hafen fragte ich in der Kneipe von Jerónimo nach meinem Freund und cicerone Crispim. "I" Traurig. Ein Zeuge weniger.


* PHG-Mitglied und in zweiter Generation in Lissabon ansässig. Er ist als Vorstandsmitglied der DEKL zuständig für das Archiv der Gemeinde und den Friedhof in der Rua do Patrocínio.
1 Die outra banda ist das südliche Tejoufer gegenüber von Lissabon. Hier liegt Amora, ursprünglich ein kleiner Fischerort am unteren Teil des mar da palha (Strohmeer), wie das Tejo-Ästuar genannt wird. Heute ist Amora völlig in der Stadt Seixal aufgegangen.




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Portugal-Post Nr. 33 / 2006


Amora, Correnteza dos Alemães
im Vordergrund, von hinten, Sr. Crispim Maria Henriques, 75 Jahre, Fischer, war 7 Jahre in Aachen, kennt die Geschichte der dt. Glasbläser von Amora.
(Aufnahme vom Juni 1999)




Deutscher Friedhof in Amora
(einzig erhaltenes Foto, vermutl. von Pfr. Gennrich zw. 1934-36 aufgenommen)




Zur Zeittafel und den Literatur- und Quellenangaben