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Das Lissabonner Beben war auch in Travemünde und Cuxhaven zu spüren
Zeitzeugenberichte von 1755 im Originaltext

Von Uly Foerster

Es ist, als hielte man eine Zeitung aus dem Jahr 1755 in der Hand. Die Augenzeugenberichte über das Erdbeben vom 1. November, das nicht nur Lissabon, sondern ganz Europa erschütterte, sind zwar erst unter dem Datum vom 26. Dezember 1755 in einem schmalen Bändchen von gerade mal 45 Seiten veröffentlicht worden. Doch das ist, für damalige Zeit, bemerkenswerte Aktualität.

Die zeitnahen Reportagen wurden beim Drucker Johann Michael Wagner in Augsburg hergestellt, die Korrespondentenberichte von einem Schreiber mit dem Kürzel "J.A.E.M." zusammengetragen, das die Historiker nicht eindeutig zuordnen konnten. Die Berichte aus Portugal, Spanien und anderen Teilen Europas über die verheerenden Folgen des Erdbebens vor 250 Jahren tragen den Titel: "Angestellte Betrachtung über die den 1. November 1755 so ausserordentliche Erdbeben und Meeresbewegungen, wodurch die Grundfeste eines grossen Theils Europens und Africa erschüttert, und einige derer Städten verunglüket wurden".

In ihrem Schrecken über das Leid hat der Zeitzeuge seine Einschätzung der Katastrophe, die rund 60 000 Menschen das Leben gekostet haben soll, zwar an manchen Stellen übertrieben: "Aber, so unglüklich, erschröklicher Tag, an welchem nur allein in dieser Hauptstadt mehr als 200tausend Menschen erschlagen, zerquetschet, ertrunken, erstikt, verbrennt, und vor Schröken plötzlich gestorben: und theils halb erstarrt, verwirret, entblößet, und halb todt, mit genauer Noth noch mit dem Leben auf das freie Feld davon gekommen sind, wo der Hunger noch so viele, die dem ersten Unglücke entrunnen, aufgerieben hat!"

Doch in ihrer Summe leben die Zeitzeugenberichte über die Katastrophe, die vor einigen Jahren von der Universitätsbibliothek Augsburg aussortiert wurden und so in den Antiquariatshandel gelangten (siehe auch Kasten), von außergewöhnlicher Detailgenauigkeit. Die Erdstöße und ihre Folgen werden in ihrem Zeitablauf genau geschildert; von gespenstischer Aktualität ist die Schilderung des anschließenden Tsunami: "Da die Wellen des Meeres und des Tago Flusses nachgehends auf einmal gefallen, so ist durch den jählingen Zurüklauf des Wassers ein Theil der Mauern und Häuser mit vielen Waaren mit fortgerissen worden. Die Wellen haben sich so hoch aufgetürmt, und der Sturm war hierbei so gros, daß man nicht anders geglaubt hat, als ob alle im Haven vor Anker gelegenen Schiffe zugrunde gegangen; doch ist dieser so berühmte Seehaven nicht sonderlich vieles beschädiget worden."

Detailliert schildern die Autoren die Zerstörungen der Häuser, die um sich greifende Feuersbrunst nach dem zweiten und dritten Erdstoß: "Weil es um die Zeit war, daß in allen Häusern Anstalten in der Küche zur Mittagsmahlzeit gemacht wurden, und also, zumal in den grossen Küchen, viel Feuer auf den Herden war". Auch von den reichen Bürgern der Stadt ist die Rede: "Die vornehmsten Herren und Dahmen waren in ihren Unterkleidern geflüchtet, und die Angst hatte ihnen nicht erlaubet, an ihre Kleider zu denken." Und auch vom Diebsgesindel berichten die Autoren mit einer Schilderung, die beklemmend an die ersten Tage nach der Überflutung von New Orleans erinnern: "Das Unglück ist in etlichen Tagen darauf vergrössert worden, durch eine grosse Anzahl Bandite, die sich aufs Plündern, Morden und Brennen geleget haben." Und weiter: "Doch um den 6. Nov. hat man Gewalt gebraucht, und 2 Regimenter in die Stadt rufen lassen."

Der Autor versucht sich auch an einer physikalischen Erklärung der Katastrophe, die einiges über den Wissensstand der damaligen Zeit verrät: Unterirdische Höhlen seien die Ursache, die teils durch vulkanische Reaktionen von Schwefel, Salpeter und Feuer erschüttert, teils durch Wasser unterspült würden und so die Erdkruste in ständige Bewegung versetzten. Belegt werden diese und andere Thesen durch eine historisch aufschlussreiche Aufzählung vieler Erdbeben von vor Christi Geburt bis zum Jahr 1747.

Die Sammlung der Zeitzeugenberichte wird komplettiert durch Reportagen aus Spanien, Frankreich, Italien und der Schweiz bis in den Norden Deutschlands: "Merkwürdig ist hierbei dieses, dass an allen Orten, wo sich dieses Erdbeben am heftigsten verspühren lassen, solches um die nemliche Zeit und Stunde wahrgenommen worden ist: als in der Travemünde und Cuxhaven um 10 Uhr, und in Spanien und Portugall um 9 Uhr. Dieser Unterschied von 60 Minuten machen die 15 Grad, welche diese Landschaften von einander entfernt liegen. Es scheint also, daß dergleichen Bewegungen der Erde von Süden nach Norden gelaufen seien."

Natürlich erspart sich der Autor des Zeitzeugenberichtes nicht den für jene Zeit unvermeidlichen Hinweis, es handele sich wohl um eine Strafe des Allerhöchsten: "Wolte Gott! Es würden viele aus dem Sündenschlaf hierdurch erwecket worden seyn!"

Ansonsten aber hält er sich, den Gesetzen eines frühen Journalismus folgend, an Fakten und Berichte, die ihm zugänglich waren.


        Eine Trouvaille


Das Büchlein mit den Augenzeugenberichten vom November 1755, noch im gleichen Jahr in Deutschland gedruckt, ist eine echte Trouvaille. Die Texte werden ergänzt durch zwei Radierungen mit Ansichten von Lissabon und einer kolorierten Karte der Iberischen Halbinsel. Das Internet macht es möglich, solche Raritäten zu finden: www.sfb.at ist eine Suchmaschine im Web, die alle anderen gängigen Suchmaschinen für antiquarische Bücher zusammenfasst. Sie durchforscht die Bestände aller angeschlossenen Antiquariate, nicht nur in Deutschland, nach einem eingegebenen Stichwort. Wer zum Beispiel "Portugal Erdbeben" eingibt, stößt auf 46 Buchangebote zum Thema. Weshalb die Augsburger Universitätsbibliothek das rare Büchlein, das sie bürokratisch korrekt mit Stempeln verunzierte, ausrangiert hat, konnte ich nicht mehr feststellen.


Diese Abbildung zeit die in der Augsburger Schrift zum Erdbeben enthaltene Radierung einer Stadtansicht Lissabons.

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Portugal-Post Nr. 32 / 2005


Titelseite der in Augsburg erschienenen Schrift über das Erdbeben.
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