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Um Encontro na Madrugada

Von Ferdinand Blume-Werry

Die Nacht zum 29. August hat mir kaum Schlaf gebracht. Unruhig stehe ich auf. Es ist 6.27 Uhr. Mein Blick fällt durchs Kabinenfenster auf die Lichterketten, die sich an der Backbordseite durch den Frühnebel drücken. Unser Schiff hat soeben die Tejomündung erreicht und schwebt gleichsam den Fluss hinauf, der seine ganze Schönheit, seine majestätische Weite, so kurz vor Sonnenaufgang noch verbirgt, bestenfalls erahnen lässt.

Madrugada. Um diese Zeit ist noch keiner der Passagiere an Deck. Die frühe Stunde teile ich mir mit zwei Matrosen, die damit beschäftigt sind, die Planken der oberen Decks abzuspritzen und den breiten hölzernen Handlauf der Reling von den dünnen Salzkrusten zu befreien, mit denen der Atlantik nachts das Schiff überzogen hatte.

Auch auf der Steuerbordseite zeichnet sich jetzt das Tejoufer ab, dunkler als auf der Seite der "Prinzessin", die sich leise ankündigt mit dichter werdenden Lichtpunkten. An diesem Tag geht die Sonne an keiner bestimmten Stelle auf. Irgendwo hinter dieser Glocke aus Feuchtigkeit und Nebel steckt das Licht, das mit jedem Meter, den sich der Bug des Schiffes nach vorne bewegt, fast unbemerkt zunimmt.

Ich liebe ihn, diesen Morgen, der ein menschenleerer Traum ist, eingefasst von sich deutlicher abzeichnenden Ufern, getragen vom leisen Rauschen des Schiffes, das die nahezu glatte Oberfläche des Rio Tejo teilt, über dem ein leichter, angenehm frischer Wind liegt, der die Tränen trocknet und dem es gleichgültig ist, ob es die der Ankommenden oder die der Abschied nehmenden sind.

Der Tejo saugt die Schiffe in den breiten Trichter seiner Wasser. Und die Menschen, die ihn auf diesen Schiffen befahren, zieht er an, er nimmt sie auf, er melancholisiert sie, indem er jene tiefe Empfindung, was das Leben ist und was es bedeutet, ihnen durch sein bloßes Dasein vorhält wie einen Spiegel. Auf der Mündung dieses Flusses liegt ein Staunen, das ein Staunen vor allem Lebendigen ist. Nichts anderes zeigt einem der Tejo zu dieser Stunde als den eigenen Herzschlag, der eine große Erinnerung ist an etwas, von dem niemand weiß, woher es kommt. Und wenn Alberto Caeiro fragt, "O mistério das coisas, onde está ele?", so antworte ich ihm, dass es hier an der Tejomündung liegen müsse.

Plötzlich wird mir klar, dass ich mich mitten in einem Fado befinde. Augenblicklich bilde ich mir ein, dieses unbeschreibliche Gefühl zu verstehen, ja zu empfinden, wofür es nur dieses eine Wort gibt, worum sich alle anderen Wörter der portugiesischen Sprache ranken wie freundliche Vasallen der Poesie, um irgendwann einmal in ferner Zukunft nach all den tausenden von Versuchen vielleicht einen Vers mit einer Melodie so in Einklang zu bringen, dass das ganze Leben aufscheint. - Genau das ist der Tod, denke ich, und verstehe, warum es nur in dieser Stadt einen "Friedhof der Freuden" geben kann. Ganz bestimmt nicht, weil etwa an diesem Fleck der Welt die Freude zu Grabe getragen wird, vielmehr weil man hier, mitten auf dem Tejo, die Welt ganz offensichtlich anders wahrnimmt, sei es aus törichter Einbildung oder aus irgendeiner anderen, sich an diesem Ort breit machenden Kraft heraus. Der Grund ist ohnehin zweitrangig.

Aus dieser Ruhe heraus, aus diesem Moment seltsam-seltener Genügsamkeit reißt mich etwas in die andere Wirklichkeit zurück. Es ist heller geworden, sieben Uhr. Wir befinden uns auf der Höhe des Torre de Belém als der Hafenlotse beidreht. Seit wenigen Minuten macht unser Schiff keine Fahrt mehr, treibt auf den Wassern zwischen dem Torre, der - von hier aus betrachtet - wie das Heck einer alten Karavelle aussieht, und dem Padrão dos Descobrimentos, beides von weithin sichtbare Landmarken bei der Annäherung an Lissabon. Leichtfüßig der Sprung des Lotsen von Deck seines Bootes auf die aus einer Luke der unteren Regionen des Kreuzfahrtriesen herabgelassenen Sprossen der Jakobsleiter. Kaum ist er an Bord, dreht das Lotsenboot wieder ab und kehrt mit aufbrausendem Motorenlärm in den genau zwischen Torre und Entdecker-Denkmal liegenden Yachthafen zurück, wo es sich hinter der Mole versteckt.

Auch unser Schiff nimmt nun wieder Fahrt auf, nähert sich langsam der Brücke des 25. April, der "summenden Brücke" wie sie seitdem für mich heißt, denn mitten unter ihr bemerkt man erst, dass die Autos oben auf Gitterrosten statt auf einer geschlossenen Teerdecke fahren, und die rollenden Reifen dadurch ein unablässiges Summen aus der Höhe hinunter auf den Fluss schicken.

Dicht hinter der Hängebrücke, an der Pier der Gare Marítima de Alcântara, machen wir fest. Es ist jetzt genau 8 Uhr, Zeit für die erste Tasse Tee und die sieben Sachen für den Landgang. Oft bin ich zuvor schon in Lissabon gewesen, mit Pessoa, mit Lobo Antunes, Cardoso Pires und natürlich mit Tabucchis "Lissaboner Requiem", doch nie in dieser Welt, in der ein Körper lebt.

Das Frühstück im Bordrestaurant habe ich ausfallen lassen und bin bei den ersten, die an Land gehen. Hier am Hafen wirkt alles menschenleer, nur ein Taxifahrer bemüht sich, mir die Vorzüge einer raschen Fahrt ins Zentrum anzupreisen. Ich weiß nicht, ob es seine ungewöhnlich zurückhaltende Art oder meine hanseatische Sprödigkeit an diesem verhangenen Morgen ist, was dazu führte, dass einer der Vorortzüge das Rennen machte, um mich die beiden Stationen in die Stadt zu bringen.

An diesem Sonnabend Morgen schläft die "Prinzessin am Tejo" noch. Die meisten Geschäfte der Baixa sind noch geschlossen und dieser Umstand macht mich irgendwie müde, obgleich ich es liebe, sich einer Metropole zu nähern, die dabei ist, gerade aufzuwachen. Mit den quirligen Bildern meiner Vorinformationen hat das alles wenig zu tun. So schlendere ich durch die Rua Augusta, über die weiße leergefegte Praça do Comércio, zurück zum Ufer, wo die Tejofähren ihre breiten und verbrauchten Körper an den Kais aufschaukeln.

Irgendwie ist alles Traum und doch zwickt mich die Wirklichkeit und sagt "geh einen Kaffee trinken und frühstücken, lass dir Zeit" und so gehe ich an seiner rechten Seite zurück über den Platz und lande im Martinho da Arcada, ohne vorher gewusst zu haben, dass dieses älteste Café Lissabons das Café Pessoas war. Erst als der Galão schon fast geleert ist, bemerke ich den Restaurant-Teil des Cafés, an dessen Wänden deutlich und irgendwie sympathisch auf den Dichter hingewiesen wird. Spätestens jetzt bin ich hellwach und nach einer durchaus geglückten Unterhaltung mit dem Wirt, bin ich zuhause, will weiter jetzt und nicht mehr fort von hier.

Ich erzähle ihm von meiner Lesung, die am Abend auf dem Schiff stattfinden soll und von meiner Zuversicht, wenigstens zwanzig Zuhörer zu versammeln, erzähle auch von dem nie auszublendenden Lampenfieber, zumal Pessoa auf dem Programm steht und ich alleine lesen werde, alleine und erstmals ohne Guilherme de Almeida-Sedas, dessen Stimme mir den ganzen Tag über gegenwärtig ist und mir Kraft gibt, es doch irgendwie so gut zu machen wie er.

Erst nach dieser Lesung - es ist inzwischen schon fast 22.30 Uhr und natürlich gäbe es noch viel von den vergangenen zwölf Stunden zu erzählen - beginne ich wahrzunehmen, wie das andere Fieber in mir aufsteigt, das Lissabon-Fieber. Noch eine Stunde bis Landgangschluss, noch anderthalb bis es wieder heißt "Leinen los", das Kreuz des Kreuzfahrers, denke ich und bin schon wieder draußen an den Docks, die sich im Vergleich zum Morgen in den wohl lebendigsten Stadtteil der portugiesischen Metropole verwandelt haben. Es wird telefoniert, man trifft Verabredungen. Hunderte junger Leute sitzen und tanzen in den gut zwanzig Bars der Zona Doca und die Musik des Café latina im ersten Stock des Hafengebäudes ist noch zu hören, als wir weit nach Mitternacht wieder unter der "summenden Brücke" den Tejo abwärts aufs offene Meer zusteuern.





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Portugal-Post Nr. 3 / 1998