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Migration - Menschen in Bewegung
Eine Studienreise nach Portugal.
Begegnungen mit Immigranten in Lissabon und im Alentejo

Von Barbara Lutz *

"Niemals wieder möchte ich in ein fremdes Land reisen, ohne seine Sprache nicht annähernd zu verstehen...!" So lautete der O-Ton eines Teilnehmers auf der Studienreise im April 2004 durch Portugal. Die Reise auf den Spuren von Migration in der Großstadt Lissabon und im Alentejo gab deutlich zu erkennen, wie vielfältig allein die Eindrücke und Ansichten einer 19-köpfigen Gruppe von deutschen Teilnehmern bei der Begegnung mit der Kultur eines ihnen fremden Landes sein können. Das Angebot der Studienreise richtete sich hauptsächlich an junge Erwachsene aus dem Bundesland NRW. Organisiert wurde das Projekt von zwei Mitgliedern des Vereins für politische Bildung Zeitpfeil, Christian Ernst und Kathrin Hahn, in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Lissabon, unter Leitung von Reinhard Naumann, sowie dem Verein Politischer Arbeitskreis Schulen. Die Teilnehmergruppe bestand aus Personen mit einem eigenen Migrationshintergrund in der Familie und Interessenten, die sich in ihrer Ausbildung oder im Studium mit Themen aus dem Bereich der Geographie, Politik, Soziologie, Linguistik oder Kulturwissenschaften beschäftigen.

Eine Einführung in die Problematik des Begriffs "Migration" zu Beginn unserer Reise zeigte, dass die Gründe für eine "dauerhafte Ein- oder Auswanderung von Individuen oder Gruppen" vielfältig sind und dass dabei sowohl räumliche und zeitliche, als auch persönliche, rechtliche oder politische Motive eine Rolle spielen können. Im Kontext der portugiesischen Geschichte und Gegenwart kann Migration in vielerlei Richtungen gedacht werden. Portugal ist heutzutage nicht mehr nur als ein Land der Auswanderung zu betrachten, sondern gegenwärtig als ein Land der Einwanderung. Hierbei spielt nicht nur die Immigration von Menschen aus den ehemaligen Kolonien seit Mitte der siebziger Jahre eine wichtige Rolle, sondern auch die verstärkte Immigration aus Osteuropa, insbesondere der Ukraine, Rumänien und Russland, die seit 1990 zu beobachten ist. Wie gehen Gesellschaft und Politik mit dieser Situation um? Welche Probleme werden durch Migration ausgelöst und was bedeutet Integration?

Im Rahmen der zehntägigen Studienreise erörterte die Gruppe die Dimension des Themas "Migration" am Beispiel der aktuellen Situation in Portugal auf verschiedene Weise. Bei Begegnungen und Gesprächen mit unterschiedlich betroffenen Menschen konnten individuelle Erfahrungen ausgetauscht werden. Diskussionen mit Referenten und Vertretern aus Politik und Wissenschaft sowie Treffen mit Ansprechpartnern von Vereinen und privaten Organisationen gaben Einblick in die öffentliche Debatte. Im Austausch mit in Portugal lebenden Jugendlichen, die ihrerseits familiär bedingte Erfahrungen von Migration mitbringen, wurde die Lebenssituation von Immigranten unterschiedlicher Herkunft in Lissabon und Umgebung gemeinsam erkundet.

Den ersten Tag unserer Studienreise begannen wir mit einer thematischen Rallye zu sichtbaren Spuren von Migration im Stadtbild Lissabons. Bei einem gemeinsamen Frühstück im Freien auf dem Miradouro São Pedro de Alcântara, in der Nähe unserer Pension im Bairro Alto, lernten wir die Mädchen der Jugendgruppe Unidos de Cabo Verde aus Amadora kennen, mit denen wir in den folgenden Tagen unserer Reise viele Erlebnisse teilten. In Kleingruppen zogen wir los zu Erkundungen durch verschiedene Stadteile. Den meisten deutschen Teilnehmern war die Stadt noch weitgehend unbekannt und so kamen uns die ortskundigen Jugendlichen bei der Orientierung zur Hilfe.

Mit der Frage, welche Aussagen die kulinarische Landschaft über die verschiedenen Nationalitäten einer Bevölkerung macht, startete eine Gruppe ins Bar- und Restaurantviertel Bairro Alto. An einigen Ecken fiel uns ein Plakat eines Dönerladens auf und als wir diesem folgten, trafen wir auf einen zweckmäßig eingerichteten Fast-Food-Imbiss, der laut der portugiesischen Angestellten kürzlich von einem deutschen Besitzer eröffnet wurde. Das Personal eines japanischen Restaurants hatte gleich eine ganze Reihe von Geschichten für uns bereit, die von dem japanischen Besitzer, der als Leistungssportler über Frankreich nach Portugal eingewandert ist, dessen deutscher Frau, dem Küchenhelfer aus Bangladesh und dem Kellner aus Brasilien erzählten. Als wir in der Mittagspause am Restaurant Calcuta 2 an die Tür klopften, öffneten uns zwei Männer, dem Augenschein nach indischer Herkunft, die uns erzählten, dass sie in Mosambik aufgewachsen und erst als Erwachsene in Portugal eingewandert waren (siehe Foto). Sie führen ein zweites Restaurant im Familienbetrieb, nur ein paar Meter entfernt. Auf dem Weg zu den internationalen Marktständen an der Praça da Espanha, vorbei an der Statue des Marquês de Pombal, machten wir Station an der Metrostation Parque. Die Station wurde 35 Jahre nach ihrer Eröffnung 1959 umgestaltet und präsentiert heute 30 Artikel der Menschenrechtserklärung. Plastiken von exotischen Tieren und handbemalte Fliesen erzählen von der Expansion Portugals und zeigen in topographischen Darstellungen die Routen der historischen portugiesischen Seefahrten. Aufschluss über die Vielfalt der Symbole und ihre Bedeutung geben die Bildunterschriften oder wiederkehrende Muster an den Wänden, wie zum Beispiel die eingrenzenden Rechtecke auf einem Kontinent (siehe Foto).

Eine andere Gruppe besuchte das Viertel São Bento, das einen Treffpunkt für viele Migranten darstellt und vor allem als Begegnungsstätte und Wohnort von Kapverdiern bekannt ist, die vorwiegend in den 60er Jahren als Arbeitsuchende nach Portugal kamen. In dieser Gegend traf die Gruppe auf einen ukrainischen Lebensmittelladen, der seit Mitte der 90er Jahre existiert und von einem Portugiesen geführt wird, der auf die große Nachfrage reagierte. Ebenfalls an diesem Tag besuchte eine weitere Gruppe das Zentrum für Immigranten OIM (Organização Internacional da Migração), das vor allem illegalen Einwanderern als Beratungsstelle in Legalisierungsfragen dient. Der Ort gilt als internationaler Boden und bietet somit als politisch neutrale Zone eine sichere Anlaufstelle für Einwanderer.

Den Abschluss dieses Tages bildete ein deutsch-portugiesisches Seminar mit verschiedenen Referenten in den Räumen einer ehemaligen Spiegelfabrik der Vereinigung Abril em Maio zum Thema Stadt und Migration. Nach der gegenseitigen Präsentation unserer Tagesergebnisse sprach die Historikerin Sónia Borges über die "Geschichte und Gegenwart der afrikanischen Präsenz in Lissabon". Es folgte ein Vortrag der Geografin Alina Esteves über die Lage, die Vernetzung und die Eingliederung von Stadtteilen mit einer großen Einwohnerdichte von Immigranten am Beispiel der Großstadt Washington. Es wurde deutlich, dass sich die Stadt Lissabon im Vergleich zu Washington noch im Aufbau eines sogenannten "Integrationsnetzwerks" befindet. Maria João Marques von den Unidos de Cabo Verde berichtete über Ihre Erfahrungen bei der Umsiedlung der Bewohner aus illegalen Barackenvierteln in Viertel mit sozialem Wohnungsbau. Die Berliner Schriftstellerin und Übersetzerin Sudabeh Mohafez, die unsere Reise gleich mit mehreren thematischen Beiträgen bereicherte, sprach, anhand von Fotografien aus Neukölln, über die sichtbaren Merkmale von Multikulturalität am Beispiel der Stadt Berlin.

Am zweiten Tag besuchten wir verschiedene Vereine, die von Immigranten gegründet wurden, wie z.B. die Casa de Goa, die Casa do Brasil, die Associação Caboverdiana und die Associação ResPublica der ukrainischen und russischen Einwanderer. Beim Vergleich der Initiativen wurde deutlich, wie unterschiedlich die einzelnen ethnischen Gruppen aufgrund ihrer spezifischen Migrationsgeschichte in der Gesellschaft etabliert sind und welche Vereinsziele und Aufgaben dadurch entstehen. Während bereits ein ganzes Netzwerk kapverdischer Vereine Raum bietet für kulturelle Begegnungen verschiedener Nationen, bietet der junge Verein ResPublica vor allem Sprachkurse oder Beratungsdienste zu Legalisierungsfragen und Arbeitsbeschaffung für seine Mitglieder an.

Am Nachmittag trafen wir uns alle im Goethe-Institut zu einem deutsch-portugiesischen Seminar zum Thema "Immigration: Interkulturelle Perspektiven", das in Zusammenarbeit mit der FES organisiert wurde. Vertreter der Öffentlichkeit berichteten dabei über die geographische und politische Situation der Einwanderer in Portugal. Vereine und Organisationen von Einwanderern wurden durch Berichterstattungen von unserer Seite vorgestellt. Es wurde über die vielschichtige Bedeutung von Integration und den damit verbundenen politischen Handlungsperspektiven und Bildungsmaßnahmen in Portugal und auch im Vergleich zu Deutschland gesprochen. Dabei stellte sich heraus, dass die Situation der Einwanderer im öffentlichen Diskurs eher als Problem denn als Potential gesehen wird. Eine Vorführung der Tanzgruppe Sankofa der Unidos de Cabo Verde und ein literarischer Beitrag des jüngst in Portugal preisgekrönten angolanischen Schriftstellers Ondjaki und der deutsch-iranischen Schriftstellerin Sudabeh Mohafez hoben den Einfluss vom Miteinander verschiedener Kulturen als eine große Bereicherung hervor.

Am darauffolgenden Tag bekamen wir eine thematische Führung zu Denkmälern im Stadtteil Belém, die Hinweise auf die portugiesische Kolonialgeschichte erkennen lassen. Am Beispiel des Mosteiro dos Jéronimos und des Padrão dos Descobrimentos an der Uferpromenade diskutierten wir über die Repräsentation von Macht als einem Kennzeichen der Eroberung und des Kolonialismus. Wir stellten fest, dass gerade das Entdeckerdenkmal, das auch Teil der "Ausstellung der portugiesischen Welt" des Salazar-Regimes im Jahr 1940 war, in vielen Reiseführern immer noch unreflektiert als Touristenattraktion gepriesen wird. Ein anschließender Vortrag des französischen Wissenschaftlers Didier Lahon über die Geschichte der portugiesischen Sklaverei ließ uns erkennen, dass die "postkoloniale Situation" heute immer noch an einer mangelnden Aufarbeitung der Geschichte des Kolonialismus krankt.

Am nächsten Tag machten wir Ausflüge in zwei Randbezirke von Lissabon, um einen Eindruck von den Lebensbedingungen der Einwanderer aus Angola, Mosambik und den Kapverden zu gewinnen. Eine Gruppe wurde durch das Barackenviertel Fontainhas geführt, das sich im Abriss befindet, während seine Bewohner in verschiedene Viertel mit Sozialwohnungen, wie z.B. nach Casal de Boba, umgesiedelt werden. Die politischen Motive für die Umsiedlungen sind komplex - humanitäre Gründe werden herausgestellt, aber vor allem scheinen Gründe wie die Kontrolle der Drogenkriminalität oder die Wiedergewinnung von Bauland maßgebend zu sein. Die meisten Häuser wurden bereits abgerissen. Einige Bewohner warten noch auf ihre Umsiedlung, weigern sich auszuziehen oder können die Mieten für die neuen Wohnungen nicht aufbringen.

Zusammen mit einer Gruppe fuhr ich ins Viertel Cova da Moura im Bezirk Buraca an der westlichen Stadtgrenze Lissabons. In der größtenteils aus Baracken bestehenden Siedlung leben etwa 6000 Menschen, die fast ausschließlich von den kapverdischen Inseln stammen. 50% der Einwohner sind jünger als 20 Jahre. Wir besuchten hier den Verein Moinho da Juventude, der seit den 80er Jahren mit verschiedenen Stadtteilprojekten für eine Verbesserung der Wohn- und Arbeitssituation eintritt und sich heute besonders in der Jugendarbeit engagiert (siehe Foto). Bei einem anschließenden Besuch des Instituto de Reinserção Social in Amadora sprachen wir mit der Sozialarbeiterin Ana Teresa Calado über die existierende Jugendkriminalität und deren Zusammenhänge mit der mangelnden Eingliederung von Einwandererkindern in das gesellschaftliche System. Das Institut versucht, straffällig gewordenen Jugendlichen eine schnelle und nachhaltige Resozialisierung zu ermöglichen.

Der darauffolgende Ostersonntag stand der freien Gestaltung zur Verfügung. Ein Abendessen in der Cozinha da Fusão brachte alle Teilnehmer wieder an einen Tisch. Das Restaurant im Stadtteil Alfama zeichnet sich durch eine Initiative von Köchen aus, die exquisite Rezepte und Zutaten aus unterschiedlichen Ländern neu kombinieren. Wie vielfältig das kulinarische Angebot durch die multikulturelle Küche einer Großstadt wie Lissabon sein kann, erfuhren wir in diesen Tagen auch bei afrikanischen, indischen, japanischen und südamerikanischen Mahlzeiten.

In einem Haus der Jugendbegegnung in Amadora sprachen wir am folgenden Tag über Chancen und Probleme der sogenannten "Zweiten Generation". Bei diesem Begriff werden die verschiedenen Identitätsaspekte eines Menschen wie Bilingualität oder Bikulturalität allerdings oft verallgemeinert. So wird in Debatten über Bildungsmaßnahmen die individuelle Familienkonstellation und die Lebenssituation der Menschen und ihre Gruppenzugehörigkeit außer Acht gelassen. Sowohl die kapverdischen Jugendlichen als auch die deutschen Jugendlichen mit persönlicher Migrationserfahrung stimmten darin überein, dass die kulturelle und sprachliche Vielfalt für sie überwiegend eine positive Perspektive darstellt. Bei einem Vortrag mit Fotografien über die Geschichte der portugiesischen Einwanderer in Deutschland erläuterte ich am Beispiel der portugiesischen Gemeinschaft und dem Vereinsleben in Hamburg die Bedeutung von "transnationaler Zugehörigkeit".

Die Teilhabe an Erzählungen aus dem alltäglichen Leben der Menschen gab vielen Teilnehmern die Anregung, sich auch zu Hause bewusst für die Begegnung verschiedener Kulturen einzusetzen. Viele äußerten den Wunsch, den Kontakt zur Jugendgruppe aus Amadora zu halten und die Tanzgruppe Sankofa nach Deutschland einzuladen. Da bei der kurzen Reise wenig Zeit für private Erkundungen in Lissabon blieb, sprachen sich alle mit Begeisterung für weitere Besuche in Portugal aus.


* Barbara Lutz studiert Kulturwissenschaften in Hildesheim und hat sich intensiv mit der Situation der Portugiesen in Hamburg beschäftigt. Die dabei entstandenen Fotografien sind in einem Bildband dargestellt und sollen veröffentlicht werden.




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Portugal-Post Nr. 29 / 2005


Restaurantbesitzer im Bairro Alto




Cláudia und Marisa in der Metrostation Parque




Moinha da Juventude