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ESSA NOSSA DITOSA LÍNGUA XX
Saudade und kein Ende (Teil 1) *

Von Peter Koj

Neben fado und vinho verde ist saudade das in unseren Breitengraden wohl bekannteste portugiesische Wort. Und in der Tat gibt es keinen deutschen Journalisten oder Schriftsteller, der auf dieses Wort verzichtet, wenn er über Portugal schreibt.

Wer länger in Portugal gelebt hat, wird sich von der Überzogenheit dieses Bildes bald einen Eindruck verschafft haben. Es ist ein Klischee, genauso richtig oder genauso falsch wie das vom stolzen Spanier, vom amourösen Franzosen, vom geizigen Schotten oder vom effizienten Deutschen. Interessanterweise existiert in Frankreich genau das entgegengesetzte Bild, nämlich das vom stets fröhlichen Portugiesen: "Les Portugais - toujours gais". Obwohl solche völkerpsychologischen Stereotypen wenig geeignet sind, die komplexe Realität eines Volkes wiederzugeben, so lässt sich der Begriff der saudade doch nicht so einfach vom Tisch fegen: Er ist für die portugiesische Literatur? und Geistesgeschichte von eminenter Bedeutung und hat im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Anwendungen erfahren.

Bereits im 15. Jahrhundert taucht die saudade bei den Dichtern des Cancioneiro Geral (z.B. João Roiz de Castel-Branco) und in Bernadim Ribeiros ohne Titel überliefertem Prosawerk auf, das entweder nach den Anfangsworten als Menina e Moça oder auch als Livro das Saudades zitiert wird. Hier begegnet uns die saudade in der alten Schreibweise (soidade), an der man die Herkunft des Wortes noch leichter erkennen kann: Es bezeichnet ursprünglich den mit der Einsamkeit (lat. Solitas, solitatis) verbundenen Schmerz.

Während im Spanischen ein Wort (soledad) ausreichen muss, um das Alleinsein und den daraus resultierenden Schmerz zu bezeichnen, bildete sich im Portugiesischen die Dublette soledade -soidade/saudade heraus. Soledade übernahm die vom Lateinischen vorgegebene Bedeutung und so wurde soidade/saudade frei für neue Bedeutungsinhalte, die je nach Autor variieren, wobei sich von den Lyrikern des 15. und 16. Jahrhundert bis hin zu den Existenzphilosophen der Neuzeit eine Erweiterung und Vertiefung des Begriffes feststellen lässt.

Für die Dichter des Estilo Novo (z.B. Sá de Miranda und AntónioFerreira), aber auch Camões in seinen Sonetten steht die saudade noch ganz in der Tradition des Petrarkismus: erst die Trennung von der Geliebten (Petrarcas Laura, Dantes Beatrice) und die bitter?süße Sehnsucht nach ihrer überirdischen Perfektion stellt die ideale Form der Liebe dar. Diese neoplatonische Vorstellung des durch unüberwindliche Trennung ausgelösten sehnsuchtvollen Strebens nach Vereinigung wurde später christlich gewendet. So besingt der Frei Agostinho da Cruz in seinen Sonetten die saudade de alma pura, die sich nach der Vereinigung mit ihrem Schöpfer sehnt und für die die Erde nur ein Exil (desterro) darstellt.

Bei den Romantikern des 19. Jahrhunderts findet die saudade eine gewisse thematische Einengung. Es ist nicht mehr der Schmerz durch die Trennung von der fernen Geliebten oder von Gott, sondern die mit den ultramarinen Aktivitäten Portugals verbundenen räumlichen Trennungen. Und zwar in beiden Richtungen. In Portugal schweifte der Blick sehnsuchtsvoll zu fernen Gestaden, dort, wo Portugiesen neue Kontinente entdeckt und besiedelt hatten. Einmal dort angekommen, erfasste den Dichter wiederum eine große Sehnsucht zur terra-mãe, dem Mutterland. Der durch die Trennung ausgelöste Schmerz wird jedoch als lustvoll empfunden. Die Romantiker versuchen, die Ambivalenz dieses Gefühls in einer Stilfigur zu fassen, die bereits typisch für die Lyrik Petrarcas und der Stilnovisten war, das Oxymoron, d.h. die Verbindung zweier widersprüchlicher bzw. paradoxer Begriffe. So eröffnet Almeida Garrett sein Gedicht Camões mit der bekannten Definition der saudade als:

"Bitteres Vergnügen von Unglücklichen,
Köstliche Qual durch grausamen Stachel"

Mit der Trennung vom Mutterland als Auslöser für die saudade verwundert es nicht, dass sie für die brasilianische Dichtung besonders prägend geworden ist. In Portugal inspiriert die saudade Ende des 19. Jahrhunderts zwei so geniale wie unterschiedliche Lyriker wie Cesário Verde und António Nobre. Doch während für diese beiden früh verstorbenen Dichter die saudade nur ein Aspekt ihres Schaffens ist, nimmt sie in einer Dichterschule zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen so breiten Raum ein, dass sie unter dem Namen Saudosismo bekannt geworden ist. Die Saudosisten, deren Mentor und berühmtester Vertreter Teixeira de Pascoaes ist, entstammen dem Kreis der Renascença Portuguesa. Dieser versuchte, angewidert von den politischen Wirren zu Beginn dieses Jahrhunderts, sich auf die traditionellen Werte Portugals zurückzubesinnen und damit der Dekadenz im Lande Einhalt zu gebieten. Dabei kam der Saudade (jetzt mit großem S) zentrale Bedeutung zu, die man in verschwommenen, irrationalen Wendungen feierte: "Die Saudade ist das eigentliche geistige Blut der Rasse; ihr göttliches Stigma; ihr ewiges Profil."

Von dieser emotionalen und nationalistischen Überfrachtung hat sich der saudade-Begriff nie mehr so recht befreien können, selbst nicht bei den modernen Philosophen wie z.B. Agostinho da Silva. Die saudade rückt zwar in die Nähe solch zentraler Begriffe wie die Angst bei Kierkegaard und Heidegger oder wie bei Sartre als negative Erfahrung unserer menschlichen Existenz (le néant) zum Gefühl von Absurdität und Lebensüberdruss (la nausée). Doch gleichzeitig bleibt die saudade Bestandteil einer portugiesischen Utopie vom Quinto Império, der selbst so ein Rationalist wie Pessoa (bes. in Mensagem) anhing.


* Basiert auf dem ersten Teil eines Artikels, der in der Zeitschrift Arcada 5/1990 erschienen ist. Im zweiten Teil geht es um die Saudade bei den zeitgenössischen Autoren Eduardo Lourenço, Augusto Abelaira und José Gomes Ferreira. Er erscheint in der nächsten Portugal-Post.




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Portugal-Post Nr. 28 / 2004