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Mit Karacho durch Lissabon
Auf Litera-Tour an die Ufer des Tejo

Von Birgit Kraatz *

Wie ein flinker, braungelber Maikäfer jagt der alte Wagon der Linie 28 mit Karacho durch Lissabons enge Gassen, bergauf und bergab. Wehe dem, der der schnaufenden Straßenbahn die Gleise versperrt. Wütendes Sturmgeläut bricht los, wenn da ein achtloser Wildparker der historischen Bahn im Wege steht. Notfalls wird dann sogar der Kotflügel gerammt. Es gibt kein größeres Vergnügen, als sich auf den harten Holzsitzen der quietschenden und ruckelnden Bahn (1902) Lissabon anzusehen. Die Linie 28 fährt quer durch die Stadt und gibt nicht nur optisch einen Einblick in die Seele der altmodischen, eine halbe Million Einwohner zählenden Stadt (Großraum Lissabon: 3½ Mill.).

Drinnen in dem stets prall gefüllten Vehikel herrscht familiäre Wohnzimmeratmosphäre. Vollbusige Mütter trösten quengelnde Kinder, betagte Großväter hieven mit letzter Kraft Gehbehinderte die Stufen hinauf, junge Menschen räumen Alten unaufgefordert den Platz. Es gibt auch noch den Schaffner, der einem ein Papierbillett vom Blöckchen abreist und Münzen annimmt. Hier in Lissabon haben Menschen noch viel miteinander zu tun.
Linie 28 ist unser Gefährt, als wir zur Feira da Ladra, Lissabons größtem Flohmarkt aufbrechen, der gleich hinter der weißen Barockfassade von São Vicente de Fora liegt. Mit der Linie 28 fahren wir auch zum melancholischen Cemitério dos Prazeres, wo wir mit der Anleitung von Antonio Tabucchis berührendem "Lissabonner Requiem" spazieren gehen.

Wir, das ist eine Gruppe literaturbeflissener Damen und Herren, die auf Anregung des Hamburger Literaturhauses von Dr. Peter Koj liebevoll und kundig geführt, auf den Spuren von Portugals großen Schriftstellern - Luís de Camões, Eça de Queirós, Bocage, José Saramago, António Lobo Antunes, allen voran jedoch Fernando Pessoa - die milieureiche Hauptstadt entdecken. Es ist Mai, und im Parque Eduardo VII findet die Feira do Livro statt; das bedeutet, zahlreiche Schriftsteller und Übersetzer sind in der Stadt.

Wir begegnen zweien, Lídia Jorge und Inês Pedrosa in der Casa de Pessoa, dem Haus, in dem der landesweit verehrte Autor (1888-1935) die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat. Dabei erweist es sich, dass Literatur, zumal wenn sie so zahlreich und aufmerksam ins deutsche übersetzt wird wie die portugiesische, ein glänzender Schlüssel zum genius loci des alten Kulturlandes Portugal ist. Die blonde Lídia Jorge, von Maralde Meyer-Minnemann brillant gedolmetscht, erzählt uns nach der Lesung aus ihrem Erstling "Der Tag der Wunder", dass eines der vorherrschenden Themen der zeitgenössischen portugiesischen Literatur die Suche nach der "Portugalität" ist, der nationalen und kulturellen Identität. Da Emigranten und Immigranten in der turbulenten portugiesischen Geschichte immer eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben, hat die Verarbeitung dieses Themas auch für den Rest Europas brennende Aktualität.

Lídia Jorge, die Portugal auf dem großen internationalen Schriftstellersymposium "Europa schreibt" 2003 in Hamburg vertreten hat, ist eine der prominenten Dichter und Romanautoren, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre den entscheidenden Bruch mit der traditionellen literarischen Sprache bewirkten. Im portugiesischen Literaturbetrieb gaben nun Romanautoren den Ton an, die vom Alter her der Sechziger Generation angehörten, aber erst Anfang der achtziger Jahre mit ihren Erstlingswerken als große literarische Entdeckungen gefeiert wurden. Außer Lídia Jorge gehören António Lobo Antunes, Mário de Carvalho, Teolinda Gersão dazu.

Die vierzigjährige Inês Pedrosa, bei Luchterhand bereits mit zwei Titeln ("In Deinen Händen" und "Du fehlst mir"), vermittelte uns bei einer spannenden Begegnung wieder in der Casa de Pessoa den feministischen Aufbruch der modernen Portugiesin, deren Ideale und Themen die zierliche Ex-Chefredakteurin einer Frauenzeitschrift literarisch verarbeitet hat. Inês Pedrosa ist ohne Zweifel eine Vertreterin des Portugal nach seiner unblutigen Nelkenrevolution (25. April 1974). Mit ihrer Zeitungs-Kolumne trat die Journalistin auch verschiedene politische Kampagnen los, die immer wieder erfolgreich die Rechte der Frauen im Auge haben. Zuletzt ging es um den Prozess einer zu acht Jahren Gefängnis verurteilten Krankenschwester, die Portugiesinnen bei der Abtreibung half, die in Portugal immer noch gesetzlich verboten ist.

Fünf mit Eindrücken, Lesungen und Besichtigungen prall gefüllte Tage reichen nicht aus, um eine kulturreiche Stadt wie Lissabon in ihren alten und modernen Facetten genau kennen zu lernen. Dennoch reisten wir tief beeindruckt mit dem Wunsch zurück, mit mehr Zeit und belesener bald zurückzukehren.


* Birgit Kraatz ist Journalistin und hat sich als Rom-Spezialistin einen Namen gemacht. Sie lebt in Italien und Hamburg.




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Portugal-Post Nr. 27 / 2004


Litera-Tour 2004
Abstecher nach Sintra
(Palácio de Pena)



Parque Eduardo VII mit Feiro do Livro in Lissabon



Pavillons auf der Feira do Livro



Lesung in der "Casa de Pessoa"
mit Lídia Jorge



Inês Pedrosa mit Maralde Meyer-Minnemann



Dr. Ursula Keller mit Lídia Jorge



Im "Parreirinha de Alfama":
Maralde Meyer-Minnemann (2.v.l.),
Dr. Ursula Keller (1.v.r.)



Num ambiente bem português:
"Parreirinha de Alfama"



Im Fadolokal "Parreirinha de Alfama":
Kerstin Siegert, Charlotte Knoblauch-Hartwig, Dr. Peter Koj (v.l.n.r.)



Canta Argentina Santos
(Parreirinha de Alfama)