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1. März 1930 - Karneval - Deutscher Klub Lissabon

Von Renata Silva *

Maria Matilde und ihre Freundinnen hatten sich hübsch gemacht, Frisuren und Kleider nach der neuesten Mode. Maria Matildes Kleid war selbstgeschneidert, sie nähte gern. Vermutlich auch aus Kostengründen. Das Haar hatte sie mit einem zur Schleife gebundenen breiten Band zusammengefasst. Sie war 22 Jahre alt. Nach portugiesischer Sitte wollten sie nur mit Herren tanzen, mit denen sie bekannt gemacht worden waren. Doch bei diesem Ball galten die deutschen Sitten. Der "Zeremonienmeister" trat auf und verkündete: "Nachdem nun alle miteinander bekannt gemacht worden sind, können Sie jetzt tanzen."

Heinz Feist, Messerwarenverkäufer der Firma Omega, die seinem Vater und zwei Onkeln gehörte, forderte Maria Matilde auf. Er ließ sie den ganzen Abend nicht mehr los. (In Maria Matildes Berichten findet sich kein Hinweis darauf, ob einer von ihnen mit einem anderen Partner getanzt hat.) War es Zufall oder eine List, jedenfalls blieb ihr Handtäschchen liegen, nicht weit von dem 24jährigen jungen Mann aus Deutschland. Er nahm sie an sich, und am nächsten Tag stand er in Campo de Ourique in der Rua Tomás da Anunciação vor der Tür. Woher er die Adresse hatte, geht aus den Berichten nicht hervor. Er selbst war in einer Pension in der Avenida da Liberdade abgestiegen, wo ihn die antiquierten Hygieneverhältnisse der Portugiesen schockierten. Er kam ja aus dem fortschrittlichen Deutschland ...

Aber zurück zur Handtasche. Ihre Rückgabe bot den Vorwand für weitere Besuche und Unterhaltungen in rudimentärem Portugiesisch, denn Maria Matilde sprach nicht Deutsch. So begann eine Bekanntschaft, wobei er Lissabon aus beruflichen und sentimentalen Gründen besuchte und immer wieder nach Deutschland und Schweden reiste. (Der junge Heinz musste seine Produkte auch in Schweden verkaufen.) Aber ... "Wir sind nur gute Freunde", sagte Heinz zu Maria Matilde. "Binden Sie sich nicht an mich, Minina."

So ging es vier Jahre lang, ohne dass Heinz sein Verhalten änderte, aber sowie möglicherweise ein Dritter im Spiel war, zeigte er Eifersucht. Maria Matildes Eltern Pedro und Nancy del-Negro reisten nach Solingen, um Rosel und Alfred Feist kennen zu lernen. Doch gab es noch immer keine feste Bindung. Irgendwann begann Maria Matilde zu kränkeln, und ihr Vater Pedro sprach mit ihr. Sie erzählte ihm, was sie bedrückte - sie sei an jemanden "gebunden", der aber im Grunde in keinerlei Beziehung zu ihr stehe. Sie machten ab, sie solle sich aus dieser Bindung lösen, zumindest sie nicht als ausschließlich betrachten. "Wir bleiben Freunde, aber ich tanze, mit wem ich will, und pflege Umgang mit anderen jungen Männern", sagte sie zu Heinz.

Er wurde sehr besorgt. Unter großer Anstrengung, denn wichtige Entscheidungen zu treffen fiel ihm schwer, sagte er: "Wie wäre es, wenn wir heirateten?" Uff! Die Hochzeit wurde für drei Wochen später angesetzt. Fieberhafte Vorbereitungen, vor allem seitens der Braut, da sie ja nach Solingen ziehen sollte. Sie feierte den Abschied vom Junggesellinnendasein mit einigen ihrer Freundinnen, die sich in diesem Monat August 1934 in Lissabon befanden, immerhin waren es doch zehn. Die standesamtliche Trauung fand am 23. August statt, der Bräutigam ließ sich am 31. Dezember desselben Jahres taufen.

In Deutschland gab es inzwischen viele Anzeichen für die zunehmende gesellschaftliche Ächtung der Juden. Heinz stammte aus einer ungemein liberalen jüdischen Familie, die Entscheidung, sich taufen zu lassen, war von der Vorsicht diktiert (die Taufe war eine anspruchslose religiöse Zeremonie - er musste nur das Vaterunser auswendig lernen).

Das Hochzeitsabendessen fand im Tavares Rico statt, mit nur wenigen Gästen, da viele im Urlaub waren. Das Brautpaar reiste per Schiff zu einem norddeutschen Hafen, wo sie von Alfred und Rosel erwartet wurden. In Solingen feierten sie mit einem weiteren Abendessen ihre Verbindung und Maria Matildes Aufnahme in den Schoß einer deutschen jüdischen Familie. An dem Fest nahmen sämtliche Onkel und Tanten teil. Der Patriarch Alfred hielt eine schöne Rede!

Fortan wohnten sie im Obergeschoss des Hauses in Solingen, gleich neben der Fabrik, wo Alfred jeden Tag pünktlich zwischen Heim und Arbeit pendelte. Er stand mit etlichen Leuten aus der Stadt auf bestem Fuß, so auch mit dem Bürgermeister, mit dem er einmal in der Woche eine Art bisca spielte. (Ich glaube, es hieß "Skat".) Das luso-deutsche Paar war komfortabel untergebracht, und Heinz machte regelmäßig seine Geschäftsreisen. Maria Matilde blieb zu Hause und nahm an dem regen gesellschaftlichen Leben teil, das Rosel ihr auferlegte. "Komm, Maria Matilde. Wir gehen zu Frau oder Herrn ..." Und sie, die so manches Mal lieber ihre Ruhe gehabt hätte, ging mit. Zur Unterhaltung bei den Freunden gehörte immer die Frage: "Wie gefällt es Ihnen in Deutschland? ..." Manchmal ging sie nur widerstrebend mit, und schließlich sprach sie mit ihrem Mann darüber. "Du bist doch keine Puppe, oder? Sag, dass du keine Lust zum Ausgehen hast!" antwortete er. Sie, die es gewohnt war, von der Mutter getadelt zu werden, weil sie nie zu Hause blieb, fand, es müsse ein gesundes Gleichgewicht zwischen Zuhausebleiben und Ausgehen geben.

Die Zeit verging, und der Druck auf die Juden nahm zu. Jetzt wechselten Bekannte, wenn sie ihnen begegneten, die Straßenseite, um sie nicht grüßen zu müssen, und im Restaurant wurden sie nicht bedient. Sie durften das Schwimmbad nicht besuchen. Und weitere Einschränkungen und Demütigungen, wie ja alle wissen. In Maria Matilde wuchs der Widerstand, auch wenn sie im übrigen das Leben und die Sitten in Deutschland in sehr guter Erinnerung behalten hat. Sie dachte: "Ich komme aus einem freien Land und soll unter solchen Umständen leben?"

Sie entschieden, dass ihr erstes Kind, Pedro, in Portugal zur Welt kommen sollte, was im März 1936 geschah. Also zogen sie ganz nach Lissabon, in ein Haus in der Rua Almeida e Sousa in Campolide. Am 14. April desselben Jahres ließ sich Heinz Herbert einbürgern und nannte sich fortan Henrique. Im Mai 1938 wurde als zweites Kind Renata geboren. Inzwischen waren sie in ein schönes Haus in der Rua Tenente Ferreira Durão, ebenfalls in Campo de Ourique, umgezogen. Mit Keller und Dachboden waren es vier Etagen.

Und die wurden auch gebraucht, denn das Leben sollte eine neue Wende nehmen: Henriques Eltern hatten, wie so viele andere Juden auch, sehr unter der "Reichskristallnacht" gelitten. Alfred war eine Nacht in Haft. Dank der guten Beziehung zum Bürgermeister blieb ihm Schlimmeres erspart. Henrique befand sich gerade in Schweden, und als er erfuhr, was in Deutschland vor sich ging, ließ er sofort die Eltern aus Deutschland nach Portugal holen. Sie verließen Deutschland am 31. Januar 1939 mit ... 10 Mark. Inzwischen hatte die Zwangsübergabe der Fabrik an zwei Angestellte stattgefunden. Offiziell hieß es "Verkauf". Alfreds Pass ist noch vorhanden, sein Name ist durchgestrichen, statt dessen steht da "Israel". Oben auf derselben Seite ein großes "J".

Henrique half vielen Flüchtlingen, nach Portugal zu kommen oder in die USA zu gehen.Bei uns waren sehr oft Ausländer im Haus, vor allem Deutsche. Onkel Julius erschien stark abgemagert bei uns und blieb ein Jahr, um sich zu erholen. Er war in einem deutschen Gefangenenlager in den Pyrenäen, auf spanischem Gebiet, gewesen. Hin und wieder ging auf Henriques Bankkonto Geld unbekannter Herkunft ein. Das kam dann von jemandem, der gehört hatte, er könne es dahin überweisen und wenn er in Portugal angekommen sei, es zurückbekommen.

Rosel, die "Sra. D. Omi", wie alle sie nannten, in dem Glauben, so heiße sie wirklich, lebte sich sehr gut in Portugal ein. Alfred, der "Opa", den die Wende in seinem Leben sehr mitgenommen hatte, bekam leider Parkinson. Er wurde immer kränker und unbeweglicher, bis er im Jahre 1953 starb. Ständig musste jemand da sein, um Omi bei seiner Pflege zu helfen. Sie selbst hatte ihren Freundeskreis mit regelmäßigen Besuchen. Nach dem Tod ihres Mannes intensivierte sie die Freundschaften und traf sich jede Woche mit ihren Freundinnen in einem bestimmten Café oder einer Pastelaria.

1944 kamen die Zwillinge Luís und Jorge zur Welt. Henrique hatte bald nach dem Umzug nach Portugal als Verkäufer bei der Empresa de Limas União Tomé Feteira angefangen. Später gründete er mit einem Partner in Porto eine Importfirma für Spielwaren. Die Familie zog in eine herrliche Villa in Restelo um, die sie sich dort hatte bauen lassen, von innen von Maria Matilde geplant, die aus Deutschland bestimmte Vorstellungen von der Raumaufteilung eines Hauses mitgebracht hatte. Die Jahre vergingen, und nachdem die Kinder geheiratet hatten, beschloss das Ehepaar, die Villa zu verkaufen und sich statt dessen eine geräumige Etagenwohnung zu kaufen.

Henrique arbeitete bis an sein Lebensende noch mit 88 Jahren zusammen mit seinen Söhnen. Die Frage, wo nach seinem Tod sein Körper bleiben sollte, hatte ihn beschäftigt. Er wollte eine Grabstätte, die nie wieder verändert würde. Schließlich fand er, was er suchte, auf dem israelitischen Friedhof von Lissabon. Und er kaufte einen Platz. Blieb noch seine große Liebe, Maria Matilde. Sie durfte nicht neben ihrem Mann begraben werden, weil sie nicht als Jüdin geboren war. Und damit begann ein neues Kapitel ihrer Liebesgeschichte. Sie stellten bei den kirchlichen Stellen einen Antrag. Sie schilderten die ganze Vergangenheit, auch die Ereignisse, die sie, Maria Matilde, im Nazi-Deutschland erlebt hatte. Drei Rabbiner, einer aus Lissabon, einer aus Belmonte und einer aus Jerusalem, prüften die Angelegenheit. Nach Ablauf eines Jahres kam die positive Antwort. Henrique teilte es Maria Matilde im Fahrstuhl ihres Hauses mit Freudentränen in den Augen mit.

Und die Nachricht war gerade rechtzeitig gekommen. Zwei Wochen später starb er. Wenige Tage danach wurde Maria Matilde von der Lissabonner Synagoge aufgefordert, sich jüdisch taufen zu lassen. Begleitet von ihrer Tochter, der Verfasserin dieses Artikels, ging sie zur Synagoge und absolvierte das rituelle Tauchbad. Dann folgte die Befragung durch die Rabbiner. Auf die Frage: "Sie sind sich dessen bewusst, was Sie tun?" antwortete sie: "Senhor Rabino, es gibt nur einen Gott." Womit sie sich zufrieden gaben. Mir hat sie anvertraut: "Aber ich bete weiterhin zur Nossa Senhora de Fátima ..."

Spielt das eine Rolle?


* Historikerin, Ex-Lehrerin der Deutschen Schule Lissabon. Schwester des Stadtabgeordneten Pedro Feist




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Portugal-Post Nr. 26 / 2004


Das Omega-Werk in Solingen, dessen Gründer, Joseph Feist, der Urgroßvater der Autorin war




Aufnahme vom Junggesellinnenabschied, August 1934
Vor dem Fenster: Maria Matilde Alegro del-Negra, die Mutter der Autorin, umringt von ihren Freundinnen




Die Eltern der Autorin, eine Woche nach ihrer Hochzeit, aufgenommen in Cascais im August 1934




Renata Silva am Akkordeon. Ihr Vater, Henrique (1.v.r.), hatte eine Vertretung von Hohner.
Die Aufnahme stammt vermutlich aus dem Jahr 1957 und wurde im Sommerhaus in Restelo gemacht




Renata Silva zwischen ihren Großeltern und Eltern.
Lissabon 1943 - Die Zwillinge waren noch nicht geboren