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Alle Träume dieser Welt

Der Dichter Fernando Pessoa lädt ein zur Wiederentdeckung Lissabons

Von Bernhard Malkmus *

Die Schreie der Möwen wirken schrill gegen den Abendhimmel, vor dem sich die Tejobrücke wie ein filigraner Scherenschnitt abhebt. Der Klang langsam abebbender Geschäftigkeit zerfließt im Geäder der Gässchen in eine feingliedrige Zusammenhangslosigkeit. Vom Kastell São Jorge, das den Blick über alle sieben Hügel der lusitanischen Metropole öffnet, hat es mich in die Alfama gespült, den einzigen historischen Stadtteil, der das verheerende Erdbeben von 1755 überlebt hatte - ein Labyrinth aus Gerüchen, Klängen und Farben. Der hereinbrechende Abend lässt in den Fassaden, die tagsüber die stechende Sonne hart übergleißt, Schatten wachwerden, in zurückgesetzten Fenstern lodern Blicke, und die Gesprächsfetzen, die aus allen Nischen daherzischeln, setzen sich zu einem ominösen Gestus der Verschwörung zusammen: Für viele Portugiesen beginnt hier der Orient, ein Kosmos jenseits der vertrauten Ordnungen. Das Klingeln der Elektrischen schneidet sich herrisch in die laue Dunkelheit und gibt mir die Orientierung zurück. Die nächste dieser liebenswürdigen gelben Raupen nimmt mich auf in ihr hölzernes Interieur und schiebt sich angestrengt an der Sé-Kathedrale vorbei in die Unterstadt. Dort umfangen mich die Wärmesedimente des siedenden Tages wie eine leichte Benommenheit. Ich suche Zuflucht im Café Martinho da Arcada. Die klassizistische Fassade der schräg gegenüber aufragenden Börse an der Praça do Comércio wird von den Lichtbändern der vorbeigleitenden Wagen durchkreuzt.

Nach dem ersten Glas vinho tinto kehren meine Gedanken zurück zu den Leseeindrücken, die meine Streifzüge durch die Stadt begleitet haben: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares und die Gedichte des Álvaro de Campos, zwei der vielen Heteronyme, unter denen Fernando Pessoa publizierte: Ich erschuf in mir verschiedene Persönlichkeiten. Ich erschaffe ständig Personen. Jeder meiner Träume verkörpert sich, sobald er geträumt erscheint, in einer anderen Person; dann träumt sie, nicht ich. Mit dieser Dramatisierung und gleichzeitigen Aufkündigung der eigenen Dichterpersönlichkeit entfächert Pessoa die literarischen Stilrichtungen seiner Zeit zu einem Spiel wechselseitiger Bezüge.

Während mir ein rosmarinduftendes Bacalhau-Menü aufgetragen wird, rufe ich mir die Stationen dieser unscheinbaren Biographie ins Gedächtnis; darunter mischen sich die Eindrücke des Tages: Die Brasileira, wo ich gefrühstückt hatte, kalt, ornamental, nostalgisch, Pessoa vielleicht an seine Jugendjahre im südafrikanischen Durban (1896-1905) als Stiefsohn eines portugiesischen Konsuls gemahnend, unrettbarer kolonialer Glanz - Vergangenheitssehnsucht und Gegenwartsverweigerung, jedenfalls eines der Lieblingscafés Pessoas, wo die bica (Espresso) heute doppelt so teuer ist wie im übrigen Lissabon. Es verkörpert die Atmosphäre des Überfeinerten, des ennui, der ironischen Entintellektualisierung. Es ist ein Ort geselliger Einsamkeit. Die Pessoa-Skulptur vor dem Café drückt dies ungewollt in ihrer Mischung aus unbeholfener Kommunikationsbereitschaft und Verschlossenheit aus.

Dann im Alter von 17 die Rückkehr in die Geburtsstadt am Tejo, die er noch patriotisch besingen sollte. Von da an begann das Versteckspiel des schmächtigen Jünglings vor sich selbst: Die Seele sucht mich. / Ich hab' mich versteckt. Gott gebe, dass sie mich nicht entdeckt. Nach einem abgebrochenen Studium nimmt ihn die Baixa, die Lissabonner Unterstadt, in die kalten Mauern ihrer Schachbrettarchitektur auf. In den Prosaspänen des Buches der Unruhe hat Pessoa quasi autobiographisch seine berufliche Existenz als Korrespondent und Buchhalter in einer exzessiven Eintönigkeit gestaltet, die in der deutschsprachigen Literatur nur mit Robert Walser oder Kafkas Tagebüchern verglichen werden kann: Wir alle, die wir träumen und denken, sind Buchhalter und Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir ziehen die Summe und gehen vorüber; wir schließen die Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.

Absurd wie eine stehengebliebene öffentliche Uhr fühlt sich Pessoa in der kleinbürgerlichen Welt des Kommerzes und der großen Gesten. Und doch: Wenn ich die Welt in der Hand hätte, würde ich sie, dessen bin ich sicher, gegen eine Fahrkarte zur Rua dos Douradores eintauschen, eine der Straßen der Baixa, die nach Berufsständen und Gilden benannt sind und wo tagtäglich Pessoasche Bilanzen gezogen werden. Eine der "Bilanzen", deren Saldo gegen den liebenswürdigen und einsamen Handelskorrespondenten sprach, war das zweimalige Aufflammen der Liebesbeziehung zu Ophélia Queiroz.

Zeitlebens sollte er nicht über ein ausreichendes Einkommen verfügen, um die Gründung einer Familie realistisch erscheinen zu lassen. Sein asketisches Leben war ein Schutzreflex, um sich den notwendigen Freiraum für die literarische Tätigkeit zu bewahren. In den Gestus der Antibürgerlichkeit, den er Álvaro de Campos in dem atemlosen Gedicht "Lisbon Revisited" auf die markante Zeile Wollt ihr mich alltäglich, nichtig, verheiratet, steuerpflichtig? zuspitzen lässt, mischen sich Züge einer Selbstdramatisierung, welche die scheinbare Selbstgewinnung des Individuums in der Sprache ad absurdum führt. Selbst in den wirr-melancholischen, grazil-schrulligen Liebesbriefen an Ophélia, seine "Baby-Raubkatze", wird diese geistige Befindlichkeit eingefangen: Ich schreibe Dir, aber ich denke dabei nicht an Dich. Ich denke gerade an die Sehnsucht, die ich nach der Zeit meiner Taubenjagd verspüre; und das ist, wie Du weißt, etwas, womit Du wirklich nichts zu tun... (Brief vom 5.4.1920)

Von der Rua do Arsenal, wo die Eltern der Ophélia ihr Patrizierhaus hatten, trieb mich der Hunger zur Mittagspause in die Taverne von Abel Pereira da Fonseca ganz in der Nähe der Rua dos Douradores, wo Pessoa seinerzeit regelmäßig seine kargen Mahlzeiten mit viel hauseigenem vinho tinto zu sich zu nehmen pflegte. Der Schafskäse ist mit Fliegen übersät und die Butter bereits ranzig, der Wein aber vorzüglich. Schräg gegenüber laufen zwei Nonnen am ältesten Kino Portugals vorbei, lachend und liebenswürdig steif; heutzutage werden dort nur noch Pornostreifen gezeigt.

Man erahnt, woher die Jähheit bestimmter Wendungen bei Pessoa kommen könnte, dieses Gefühl des Überfahrenwerdens durch die Sprache, die surrealistisch inszenierte Unvermitteltheit des Faktischen, die sein berühmtestes Gedicht "Tabacaria" (Tabakladen) auf so faszinierende Weise durchwirkt: Der Mann hat den Tabakladen verlassen (und das Wechselgeld in die Hosentasche gesteckt?). / Ah, ich kenne ihn; es ist der Stefan ohne Metaphysik. / (Der Besitzer des Tabakladens trat an die Tür.) / Wie auf Göttergeheiß hat der Stefan sich umgedreht und mich erblickt. / Er winkte mir zu, ich rief: Auf Wiedersehn, Stefan!, und das Weltall / fügte sich, ohne Hoffnung und Ideale, für mich zusammen, / und der Besitzer des Tabakladens lächelte.

Die Bedienung kommt um abzutragen und holt mich abrupt wieder ins Arkadencafé. Ich bestelle eine bica und lasse meinen Blick über die Marmorplatten schweifen. Dort sitzt er ja, Álvaro de Campos, der ausgebildete Schiffsbauingenieur, der Sänger der Maschine, der Zeremonienmeister des Maschinenzeitalters, neurotisch an seiner Zigarette ziehend. Und neben ihm Ricardo Reis, Jesuitenzögling und Arzt. Hatte er sich nicht nach der endgültigen Niederlage der Monarchisten enttäuscht nach Brasilien zurückgezogen, um dort die griechischen Klassiker zu studieren und ein trauriges Epikureertum zu leben, das er in zahllosen formvollendeten Oden besingen sollte? Dann Alberto Caeiro, den sie alle ehrfurchtsvoll "Meister" nannten, der Genius der Intuition, der ewig-Jugendliche: Ich bin leicht auf eine Formel zu bringen./ Ich war besessen vom Schauen. Und schließlich etwas abseits Bernardo Soares, der mich den ganzen Tag begleitet hatte mit seiner Liebe zum Belanglosen.

Die leichtfüßige Kellnerin serviert das winzige Tässchen portugiesischen Espresso und reißt mich aus meiner Fabuliererei. Ich gebe aus einer mir sonst unbekannten Sentimentalität heraus viel Trinkgeld. Draußen ist die Nachtluft jetzt klarer und die Möwenschreie sind zu weißglühenden Fetzen vor den samtschwarzen Wogen des Tejo geworden. Durch ein Spalier von Liebespärchen führt der Uferweg entlang zum Bahnhof Cais de Sodré. Im Zug nehme ich mir vor, morgen Lissabon bei Tageslicht zu erkunden, ein Lissabon, dessen Topographie nicht vom Ätzstift der erbarmungslosen Pessoaschen Wahrnehmung vorgezeichnet ist, morgen möchte ich 'schauen' lernen wie Alberto Caeiro, im unbestechlichen Licht der Sonne. Hinter Estoril, als der Zug fast aus den Gleisen und in den weiten Ozean hinausspringt, greife ich noch einmal in die Jackentasche und buchstabiere die Verdeutschung Paul Celans in die Dunkelheit: Ich zog / Mein Königtum, den Leib, die Seele, aus / und kehrte heim zur alten, stillen Nacht / wie eine Landschaft, wenn der Tag vollbracht.

Wenn ich mich morgen nicht von Lissabon losreißen können sollte, werde ich am Abend wieder eine Karte zur Rua dos Douradores lösen und einsteigen in, in die Fundamente einer literarischen Geisterstadt, in eine zweite Alfama, ein Arsenal der nichtgelebten Leben, ein Weichbild der vitalen Lebensverweigerungen:

Ich bin nichts.
Ich werde nie etwas sein.
Ich kann auch nichts sein wollen.
Abgesehen davon, trage ich in mir alle Träume der Welt.


* Sohn unseres Mitglieds Rudolf Malkmus. Promovent der vergleichenden Literaturwissenschaft in Cambridge. Verlebte einen Teil seiner Kindheit in Estoril.




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Portugal-Post Nr. 23 / 2003


Pessoa-Bronzeplastik vor der Brasileira




Cinematógrafo do Rossio, das älteste Kino Lissabons




Pessoas Grab im Kreuzgang des Hieronymus-Klosters